Lust oder Frust?

Es könnte alles so einfach sein. Zumindest wenn man sich im Tierreich umschaut und erkennt, dass der Sexualtrieb genau wie die Bedürfnisse nach Nahrung oder Schlaf natürlichen Prinzipien folgt, deren Umsetzung weder problematisch noch tabuisiert sind. Doch der Mensch beruft sich auf eine Sonderstellung und mit ihr ist ein vertracktes Verhältnis zur eigenen Lust und deren Ausdruck entstanden. Die Erotik wird zu einem Phänomen der besonderen Art, dessen Wirklichkeit zu allerlei Verständnisschwierigkeiten wird. Aber: Ist Erotik überhaupt zu verstehen?

herder-50-52.inddDer Legende nach begab sich einst bei der Aufführung einer Sinfonie des deutschen Komponisten Johannes Brahms folgende Anekdote: Die ursprünglich für jenes musikalische Werk vorgesehene Beschreibung »Da sitzen zwei Herzen in Liebe vereint« wurde von den zuständigen Dramaturgen falsch gelesen und in »Da sitzen zwei Herren in Liebe vereint« umformuliert. Eine Petitesse der Musikgeschichte, aber ein treffliches Beispiel für die Verkomplizierung jenes ursprünglich so notwendigen und einfachen Ausdrucks der erotischen Wirklichkeiten.

Denn im Gegensatz zur Musik, die ähnlich wie die Sexualität einem naturhaften Bedürfnis der Spezies Mensch entspricht, wird der Umgang mit der Lust schnell zum Frust, weil diese falsch interpretiert oder missverstanden werden kann. Liegt das allein an unserem Verstand? Ja und Nein lautet die doppelte Antwort – willkommen im undurchsichtigen Dschungel des Sex.

Zutreffend ist obige Annahme, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die menschlichen Triebe einem Impuls entspringen, der wissenschaftlich im autonomen Nervensystem verortet wird, den man salopp aber auch als ein Gefühl des Bauches oder des Beckens bezeichnen könnte. Vom Kopf jedenfalls geht diese Notwendigkeit mit Sicherheit nicht aus, und ein jeder kennt diese Wahrheit wohl aus persönlicher Erfahrung oder Anschauung: Wenn aus Sexualität verkopfte Mechanik oder zwanghafte Kontrolle wird, hat sie ihre Sinnlichkeit und ursprüngliche Bedeutung verloren.

DER EROS, DAS IST DAS VERLANGEN DER STERBLICHEN NACH UNSTERBLICHKEIT.
Sokrates (469 v. Chr. – 399 v. Chr.)

Andererseits ist das Gehirn für den Menschen von überragender Bedeutung und Funktionalität, da er damit auch weitreichendere Mechanismen des Miteinanders bewerkstelligen kann. Lange ging man in den Wissenschaften davon aus, dass das Großhirn die Überlegenheit der menschlichen Art repräsentiere. Danach setzte sich die Ansicht durch, dass damit die Fähigkeit gefördert wird, Maschinen und Geräte herzustellen und zu bedienen (Homo habilis). Mittlerweile weiß man, zumindest in Kreisen der Anthropologen, dass die Notwendigkeit für dieses besondere Organ namens Gehirn, auf Kooperation fußt. Auf der Fähigkeit, mit seinen Artgenossen zu kommunizieren und die mehr als schwierigen Aufgaben des Miteinanders befriedigend zu lösen. In der »Befriedigung« steckt nicht nur sprachlich der Frieden, womit wir wieder beim Ausgangspunkt und der Frage wären, wie genau dieser zu erreichen ist.

Verlangen nach Bindung

Am besten nähert man sich diesem Phänomen von der Seite der Bedürftigkeit an. Was nicht geleugnet werden kann, ist das unzweifelhafte Verlangen des Menschen nach Bindung. Wer, wie der mittelalterliche Stauferkaiser Friedrich II, das grausame Experiment wagt, Kinder ohne wärmenden Kontakt aufziehen zu lassen, um herauszufinden, welche Sprache die Menschen von Natur aus sprechen, wird erkennen, dass es die Sprache der Liebe ist. Und da die Kinder diese in jenem unmenschlichen Experiment nicht erfahren haben, mussten sie sterben.

Weniger brutal, aber doch nicht weniger schmerzhaft, sind jene »Experimente«, die wir als Kinder selbst erlebt haben und unfreiwillig an unsere Nachkommen weitergeben. Nämlich all die Neurosen, Verhaltensstörungen und traumatischen Erlebnisse, die wieder aufkommen, wenn wir versuchen unseren emotionalen Alltag zu regeln. Wie auch immer man solche Erfahrungen je nach psychologischer Ausrichtung beschreiben mag, fest steht, dass sie das Bindungsverhalten des späteren Erwachsenen maßgeblich beeinflussen. Frigidität oder Sexsucht als Extreme, genau so wie die Unfähigkeit zur dauerhaften Bindung oder das Klammerbedürfnis: Wer aufmerksam nachspürt, wird dafür immer Erklärungen in der Vergangenheit des Menschen finden und sicher nicht – wie es in Liebesbeziehungen einem Partnern oft vorgeworfen wird – in der Natur des Einzelnen.

Tabulose Gesellschaft

Auch der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität spielt bei der Erziehung eine wichtige Rolle. Galt die aufgeklärte Welt noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts als prüde und zwanghaft, hat sich heute scheinbar das Gegenteil durchgesetzt. Es gibt einen ständigen Zugang zur Darstellung sexueller Handlungen, der so weit führt, dass man, ohne zu übertreiben, behaupten kann, der – vor allen Dingen jugendliche – Konsument betrachte in seinem Medienleben mehr Orgasmen, als er jemals selbst erleben kann.

Doch hat diese vermeintliche Öffnung das Sexualleben der Menschen erleichtert? Der deutsche Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer kommt nach jahrzehntelangen Untersuchungen seiner Klienten zu folgender These: Die Freizügigkeit gehe einher mit einem Zuwachs an Menschen, die mit sich und ihrem Körper unzufrieden seien, die Anzahl jener Symptome steige von Jahr zu Jahr. Gut die Hälfte all seiner Klienten muss sich mit dieser Form von Selbsterniedrigung auseinandersetzen, wozu insbesondere die tabulose Ästhetisierung der Moderne ihren Teil dazu beiträgt.

Wer ständig mit perfekten Körpern und inszenierten Liebesspielen konfrontiert wird, stellt seine eigene Sichtweise irgendwann in Frage. Die Schönheitschirurgen haben dementsprechend Hochkonjunktur; die Neurosen können sie nur verdecken, nicht aber heilen. Zur Heilung bedarf es einer anderen Erkenntnis. Nämlich jener, dass die Erotik als Erlebnisgut nur im Inneren erfahren und von dort ihren Ursprung nehmen kann. Sie ist spontan, intuitiv und impulsiv; der mechanische Glaube des Verstandes steht dem grundsätzlich im Weg.

Erotik braucht Pflege und Sorgfalt

Gebrauch machen sollten wir von unserem Gehirn aber dennoch, denn wie oben beschrieben, brauchen wir es für just jene Fähigkeit, an der so manche Beziehung scheitert: das Miteinander. Und damit ist nicht nur das Miteinander im Bett gemeint, sondern vor allen Dingen die Kommunikation danach. Kurt Tucholsky hat jene Einseitigkeit, die in fiktiven Romanzen zur Schau gestellt wird, unnachahmlich karikiert. Seine Formulierung: »Und darum wird beim Happyend auch meistens abjeblendt«, verweist auf die wirklichen Konfrontationen einer echten Beziehung.

Gemeinsame Wohnung, Kinder und Arbeitsanforderungen müssen mit der einst als Auslöser für die Partnerschaft im Vordergrund stehenden Sinnlichkeit kooperieren. Statt einsamer Grübeleien und gegenseitiger Vorwürfe, sind Lösungen gefragt, die mit Humor und Anteilnahme und einer behutsamen Pflege gefördert werden. Die Natur kennt interessante Vorbilder, so z.B. spezielle Kakteenarten, die erst nach 20 Jahren intensiver Aufzucht zu blühen beginnen. Soll heißen: Nicht die Erotik oder Sexualität sind das Problem, sondern deren beständige Pflege und Sorgfalt. Fähigkeiten, die nicht aus einem Buch erlernt werden können und die reife, eigenständige Persönlichkeiten voraussetzen.

Demgegenüber steht eine Konsumgesellschaft, die auf Leistung und Perfektion ausgerichtet ist. Die technischen Ratgeber einer »vollkommenen Ehe« mit der Darstellung der »richtigen Sexualpraktiken«, die erstmals in den 1920er Jahren auf den Markt kamen, sind dabei nicht weniger hinderlich als scheinbar transzendente Türöffner wie Tantra oder Kamasutra. Ihnen allen ist gemein, dass sie versuchen, etwas vom Verstand her zu organisieren, was seine Wirklichkeit im Körper und im Gefühl hat.

Befreite Sexualität

Radikal formuliert hat diese Sichtweise der österreichische Psychologe und Freud-Schüler Wilhelm Reich, dessen Theorien von der »Orgon-Energie« und dem Orgasmusreflex bis heute nachhaltigen Eindruck auf alle körpertherapeutischen Verfahren machen. Das von Reich titulierte »Strömen« als Lösung der durch Blockaden festgehaltenen Energien lässt sich nirgends so plausibel erfahren wie in der befreiten Sexualität. Dass Reichs Vorstellungen bis heute nur geringfügig im gesellschaftlichen Konsens angekommen sind, zeigt sich unter anderem darin, dass seine Bücher noch Ende der 1950er Jahre öffentlich verbrannt worden sind. Der Grund: Reichs offenes Bekenntnis zur Lust.

Nach wie vor besteht ein eklatanter Unterschied zwischen den in den Trivialmedien aufgeworfenen Vorstellungen und den eigentlichen Werten menschlicher Wirklichkeit. Das gilt nicht nur für das Missverhältnis zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Zwängen, sondern auch für so manchen kollektiven Glaubenssatz. Gemeinhin gilt ja der Mann auch in hohem Alter noch als potent, ganz im Gegensatz zu seinem angeblich schwächeren Gegenstück. Wie Schmidbauer erklärt, hat die Natur da et- was ganz Anderes vorgesehen. Während bei Frauen die Fähigkeit zu multiplen Orgasmen eher zu- als abnimmt, ist es in Wirklichkeit der Mann, dessen Erektionsfähigkeit nachlässt.

Die inneren Werte

Nichtsdestotrotz ist eine erfüllte Sexualität bis ins hohe Alter keine falsche Wunschvorstellung, sondern reelle Basis. Voraussetzung ist aber eine kommunikative und offene Partnerschaft und eine lustvolle Beziehung zum eigenen Körper. So sehr auch die Bindung das Miteinander benötigt, ohne einen verantwortungsvollen Umgang mit Lust und Körperlichkeit in einem selbst wird das Rätsel der Erotik nicht gelöst werden können.

Die Durchlässigkeit für Freude, Rhythmus und Austausch sucht ihren Weg unbekümmert von innen nach außen. Der entgegengesetzte Weg von außen nach innen ist geprägt von der äußeren Wirklichkeit. Überansprüche, Messbarkeit und Befriedigungsnormen führen in die Sinnkrise, die auch immer eine sinnliche Krise bleiben wird. Was Untersuchungen zum G-Punkt und zur Orgasmushäufigkeit sagen, kann laut Schmidbauer mit einer These der modernen Physik verglichen werden. Die sogenannte Unschärfetheorie, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Werner Heisenberg formuliert, besagt, dass unsere Erfahrungen einer scheinbaren Objektivität haltlos sind. Nur der einzelne Mensch kann gegenüber sich selbst objektiv sein – und zwar ohne jede Berechnungsskala, Tabelle oder Formel. Es zählen allein die inneren Werte.

Das Rätsel der Erotik wird auf diese Weise gelöst, weil sich die Frage, ob und wie etwas richtig oder falsch ist, nicht mehr stellt. Erotik fließt als Pulsation in die Strömung, ins Wesen echter menschlicher Hingabe.

Buchtipp
Wolfgang Schmidbauer
Das Rätsel der Erotik
Lust oder Bindung

224 Seiten, € 19,90
ISBN: 978-3-451-61307-4
Kreuz Verlag