Das Glück der anderen

Das Streben nach Glück ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit und wird in der modernen Zivilisation neben dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf Leben als eines der höchsten Güter betrachtet. Doch was ist das eigentlich, dieses »Glück«? Und ist es tatsächlich für jeden dasselbe?

Der Begründer der Analytischen Psychologie, C.G. Jung, hat schon in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts angemahnt, dass man im Strudel der Definition menschlicher Bedürfnisse und Rechte nicht in Gleichmacherei verfallen darf, da man sonst allzu leicht verkennt, dass es verschiedene Persönlichkeitstypen mit unterschiedlichen Glücksansprüchen gibt. Und dies aus gutem Grund und mit weitreichenden Folgen.

Traurige FrauSchon Thomas Jefferson spricht in der Präambel zur US amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von den »unverbrüchlichen Rechten«, mit denen jeder Mensch von Geburt an ausgestattet ist: das Recht zu leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf das Streben nach Glück. Dies haben wir in unserer modernen Gesellschaft zutiefst verinnerlicht und niemand, der bei klarem Verstand ist, würde dies je in Zweifel ziehen. Leider haben wir auch den dort voranstehenden Satz, nach dem »alle Menschen gleich erschaffen« sind, verinnerlicht beziehungsweise zu wörtlich genommen. »Liberté, égalité, fraternité« (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sind unbestreitbar noble Werte, doch falsch verstanden wird gerade die Gleichheit zum Problem, wenn sie zur Gleichmacherei wird.

Um es vorwegzunehmen: Selbstverständlich sollten alle Menschen dieselbe Wertschätzung genießen und vor dem Gesetz gleich behandelt werden, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Abstammung, Religion, Weltanschauung, sexueller Orientierung oder was einem hier noch in den Sinn kommen könnte. Das ist im Sinne der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung tatsächlich selbstverständlich (»self-evident«) und sollte auch so gelesen werden. Wenn man daraus jedoch ein »alle Menschen ticken gleich, haben dieselben Bedürfnisse und Glücksansprüche« macht, wird daraus eine Perversion eben dieses Anspruches, weil die psychologische Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht berücksichtigt wird.

Vier psychologische Auffassungsfunktionen

Bereits vor gut einem Jahrhundert war es dem Begründer der Analytischen Psychologie, C.G. Jung, aufgefallen, dass wir Menschen aufgrund der Dominanz gewisser psychologischer Funktionen bestimmte, ganz klar erkennbare psychologische Typen ausbilden und verkörpern – etwas das heute zwar kaum noch Beachtung findet, aber nichts von seiner Aktualität und Richtigkeit verloren hat. Doch beginnen wir erst mit den grundlegenden Erkenntnissen, auf denen Jungs Typologie beruht:

Wir alle besitzen laut Jung vier verschiedene psychische Auffassungsfunktionen, mit deren Hilfe wir Wahrnehmungsinhalte verarbeiten und uns so den Weg durch unseren Alltag bahnen:

Empfinden, Denken, Werten (Jung nennt es meist »Fühlen«, was jedoch in unserem heutigen Sprachgebrauch leicht missverstanden wird) und Intuieren. Die Reihenfolge dieser Grundfunktionen ist dabei nicht willkürlich, sondern entspricht der natürlichen Ordnung unseres psychischen Auffassungs- bzw. Wahrnehmungsprozesses. Das Empfinden ist die Basis – es sagt uns, dass dort überhaupt etwas ist. Es entspricht dem Akt ungefilterter, primärer Wahrnehmung, in dem etwas noch Unbenanntes in unserem Sinnes- oder Vorstellungshorizont auftaucht.

Erst der folgende Prozess, das Denken, gibt dem Wahrnehmungsinhalt einen Namen und ordnet ihn systematisch in unseren Erfahrungshorizont ein. Das denkende Erkennen beantwortet die Frage, »Was ist es?«, und stellt einen psychischen Gesamtzusammenhang her, der es uns erlaubt, mit dem gerade erkannten Inhalt umzugehen. Diese Funktion und der aus ihr resultierende menschliche Verstand werden in unserer heutigen Gesellschaft auf einen Thron gehoben, der ihnen eigentlich nicht zukommt, da das Denken nur ein Teil eines Ganzen ist, das nur in eben dieser Ganzheit Bestand hat. Was wäre das Denken ohne den Gegenstand seiner Erkenntnis? Ein Nichts.

Nachdem ein Gegenstand aufgetaucht und erkannt bzw. benannt worden ist, stellt sich uns fast gleichzeitig die nächste Frage: »Mag ich das oder mag ich es nicht?« Das Werten stellt einen neuen, weiteren Zusammenhang mit früheren Erfahrungen und Wahrnehmungen her und ordnet das Erlebte in einer persönlichen Skala von »unerwünscht« bis hin zu »willkommen« ein. Dieser »gefühlte« Wert einer Sache oder Erfahrung hat C.G. Jung dazu verleitet, von »Fühlen« zu sprechen, wobei der Begriff hier irreführend ist, weil es sich beim Werten wie auch beim Denken ganz klar um eine rationale Funktion handelt.

Der nächste und finale Schritt im Erkenntnisprozess stellt nun eine entscheidende, geradezu richtungsweisende Frage: »Was mache ich damit?«. Diese Frage richtet sich in die Zukunft und fragt weniger nach einem funktionellen »Was?«, sondern nach dem »Wohin?«, ohne welches ein gerichtetes Handeln überhaupt nicht möglich wäre. Wie auch beim Empfinden handelt es sich beim Intuieren um eine irrationale Auffassungsfunktion, in der es keine klaren Kategorien oder festen Wegmarken gibt. Es ist das intuitive Gespür dafür, wie es weitergehen kann oder soll – und insofern könnte man genau diese Funktion als das eigentliche Fühlen bezeichnen.

mannDiese vier Funktionen können in einem Diagramm in Form eines Windrads angeordnet werden, wobei das Empfinden unten im Süden, das Denken im Osten, das Werten oben im Norden und das Intuieren im Westen platziert sind. Zusammen repräsentieren sie in Form eines Mandalas unsere psychische Vollständigkeit, den vollen Umfang unserer Erkenntnisfähigkeit und die organische Ganzheit desselben. Keine dieser Funktionen hat alleine Bestand und erst alle zusammen machen uns zu Menschen, wobei jedoch die Prioritäten im Einzelfall meist unterschiedlich gesetzt sind.

Vier Persönlichkeitstypen

Aus dem bewussten Vorherrschen einer bestimmten Funktion wie z.B. des Denkens ergibt sich laut Jung ein bestimmter psychologischer Typ, bei dem in diesen Fall das Denken die primäre, bewusste Funktion darstellt, während das Intuieren auf der anderen Seite des Mandalas unbewusst und eher primitiv ausgebildet ist. Eine der beiden halbbewussten Funktionen, in diesem Fall Werten oder Empfinden, kann zur bewussten Hilfsfunktion ausgebildet sein, weshalb eine Vielfalt von Subtypen vorkommt, während doch eigentlich vier primäre psychologische Typen klar erkennbar bleiben: der Empfindungstyp, der Denktyp, der Werttyp und der Intuitionstyp.

So wie das Primat einer bestimmten Funktion eine ganz eigene psychische Dynamik in uns hervorbringt, so bringt erst das Vorhandensein verschiedener Persönlichkeitsypen Bewegung in unser gesellschaftliches Zusammenleben. Ohne diese Diversität wäre Stagnation vorherbestimmt, Langeweile vorprogrammiert, da kein wirklicher Energiefl uss zustande käme. Stellen Sie sich vor, alle fragen sich nur noch nach dem »Was« und niemand mehr nach dem »Wohin« – eine Situation, die wir in unserer vom Verstand und Denken geprägten Welt nur allzu gut kennen. Ohne den Intuitionstyp, den eigentlichen Visionär unter den vier Persönlichkeitstypen, fehlt den Techno- und Bürokraten (Denktyp) jegliche Orientierung und es ist kein Wunder, dass »Nachhaltigkeit« zwar gepredigt, aber nicht zukunftsweisend umgesetzt wird. »Variety is the spice of life« – erst die Verschiedenheit der Typen bringt Salz in die Suppe. C.G. Jung schreibt:

»Über die psychologische Verschiedenheit der Menschen, diesem notwendigsten Faktor der Lebensenergie einer menschlichen Gesellschaft, wird keine soziale Gesetzgebung hinwegkommen. Darum ist es wohl nützlich, von der Verschiedenartigkeit der Menschen zu reden. Diese Unterschiede bedingen derartig verschiedene Glücksansprüche, dass keine auch noch so vollkommene Gesetzgebung ihnen auch nur annähernd genügen könnte.«

Seiner natürlichen Neigung folgend findet ein Denktyp sein Glück im Verstehen, im Ordnen und Benennen, während der Intuitionstyp sein Heil in Organisieren und Planen sucht. Der ozeanische Empfindungstyp schwelgt hingegen gern in der reinen Wahrnehmung, weshalb er in der Meditation aufblüht oder in körperlichen Anstrengungen aufgeht. Dem rationalen Wertungstyp erscheint dies als purer Unsinn, als reine Zeitverschwendung – und damit ist er ganz in seinem Element. Erst wenn wir die Existenz der unterschiedlichen Typen erkennen und anerkennen, lösen sich die ansonsten vorprogrammierten und weit verbreiteten Missverständnisse auf.

So kann zum Beispiel ein sonst so urteilsicherer und -starker Wertungstyp wie Gerhard Schröder auf einen im Kern für ihn undurchsichtigen Intuitionstypen wie Wladimir Putin »reinfallen« und ihn guten Gewissens als »waschechten Demokraten« bezeichnen, weil er seinen russischen Freund für einen gleichgearteten Menschen hält. Kameradschaft ist für ihn ein hoher Wert, während für den zukunftsbezogenen und gleichzeitig irrationalen Intuitiven – den Planer und Strategen Putin – ganz andere Prioritäten zählen. Ein klassisches Missverständnis, das auf der Unkenntnis eines wesentlichen Aspekts der menschlichen Psyche und Typologie basiert.

Solche Missverständnisse können auch beidseitig sein: Einer meiner Freunde, ein Empfindungstyp, ist mit einer intuitiven Frau liiert. Sie scheinen sich perfekt zu verstehen, haben viele gemeinsame Interessen und weinen auch schon mal in der freien Natur oder unter einem klaren Sternenhimmel zusammen. So rührend dies auch sein mag, der Einklang ist nur ein schöner Schein, da Empfindung und das intuitive Fühlen beide aus ganz unterschiedlichen Gründen weinen lassen. Da beide Typen irrational sind, wird dieses Missverständnis wohl nie aufgeklärt werden – und ich werde den Teufel tun, diese Harmonie zu stören.

Allerdings wäre es für den Frieden und das menschliche Miteinander insgesamt durchaus wünschenswert, wenn das Wissen um die verschiedenen Persönlichkeitstypen Allgemeingut werden könnte. Unendlich viel Leid ließe sich vermeiden, Missverständnisse kämen gar nicht erst auf und Vorurteile würden auf allen Seiten abgebaut. Ein Empfindungstyp ist nicht einfältig oder naiv, nur weil er es vorzieht, in einem prärationalen Zustand zu verweilen, und ein Denktyp ist nicht gleich ein gestörter Nerd, nur weil er sich mit komplizierten mathematischen Problemen befasst oder Käfer sammelt und ein kompendiöses Wissen über diese Krabbeltiere besitzt.

Das Glück der anderen

Für einen Empfindungstypen bedeutet es Glück, ganz in der Empfindung zu sein, die Welt mit allen Sinnen zu erfahren, in sie einzutauchen wie in einen Ozean der Wahrnehmung. Dies ist die Welt des Seins, vor allen Erklärungen, Rationalisierungen und Wertungen. Für einen Denktypen hingegen muss alles erst benannt und geordnet werden – sein Glück liegt im Sammeln von Fakten, im Bereich der Sprache und der Nomenklatur und vor allem anderen im Verstehen. Seine Domäne ist der Verstand und die Welt der Worte, und unsere moderne Welt ist für ihn ein Paradies.

»Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar.« C.G. Jung

Der eher schlagfertige Wertungstyp hätte hingegen mehr Spaß im Mittelalter gehabt, denn in der Welt des Wertens geht es auch um den ewigen Kampf von Gut und Böse, um Macht und Ohnmacht. Nicht nur als Richter fühlt sich ein solcher Typ wohl, sondern auch als schlagfertiger Scharfrichter, als Ritter, Krieger, Playboy oder Femme fatale, als Macher oder Machtmensch – dies alles ist sein Schlachtfeld, auf dem er seinem Glück wie ein Eroberer hinterherjagt. Ganz anders als der Intuitive, dessen Glück im Planen, Organisieren und Ersinnen von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten liegt – nicht in deren Verwirklichung, die für einen Visionär wie ihn viel zu profan scheint. Dies überlässt er gerne anderen und hat kein Problem damit, wenn sie ihn für einen Traumtänzer halten.

Natürlich sind dies nur ein paar Aspekte der kalaidoskopartigen Vielfalt menschlicher Typologie, die nicht nur dadurch kompliziert und bunt wird, weil jeder Typ meist noch durch eine benachbarte Hilfsfunktion geprägt wird. So wird zum Beispiel ein Denktyp mit Hilfsfunktion Empfindung ein ruhigerer Zeitgenosse sein als sein Gegenstück, welches das Werten bevorzugt. Hinzu kommt ein weiterer wesentlicher Punkt, der nicht außer Acht zu lassen ist – C.G. Jung schreibt:

»Eine weitere Unterscheidung in zwei Klassen erlaubt die Libidobewegung, nämlich Introversion und Extraversion. Alle Grundtypen können sowohl der einen wie der anderen Klasse angehören.«

Diese Unterscheidung ist den meisten Menschen schon eher vertraut, weiß man doch aus eigener Erfahrung, wie verschieden introvertierte und extravertierte Menschen fühlen, denken und handeln. Bei den Ersteren geht die Bewegung von außen nach innen und ihr Innenleben spielt eine weit größere Rolle als die äußere Welt. Bei extravertierten Menschen geht die Bewegung von innen nach außen, sie ist auf das Objekt (der Begierde) gerichtet – eine Eigenschaft, die für den individuellen Glücksanspruch ebenfalls einen entscheidenden Unterschied macht. So ist die Vipassana-Meditation eher etwas für introvertierte Empfindungstypen, während die extravertierte Variante mehr Freude an Sport oder Bewegungsmeditation haben wird.

Der Platz erlaubt es hier leider nicht, näher auf die verschiedenen Kombinationen und individuellen Vorlieben einzugehen. Was gesagt werden kann, ist, dass die Kenntnis der Typologie ein völlig neues Bild von uns selbst und unseren Mitmenschen zeichnet. Echtes Verständnis der anderen ist nicht möglich, ohne ihnen ihr spezifisches Anderssein zuzugestehen. Eine Herausforderung für unsere moderne Gesellschaft und für jeden Einzelnen, aber eine lohnende Aufgabe – denn sie erlaubt es uns nicht nur, unser eigenes Glück zu finden, sondern auch, den anderen ihr Glück zu gönnen, auch wenn es nicht unserer Auffassung entsprechen mag.

Buchtipp
C.G. Jung
Psychologische Typen
Gesammelte Werke 6

668 Seiten, 27,90 €
ISBN: 978-3-84360-124-5
Patmos Verlag
Weitere Informationen
Eine Typberatung der etwas anderen Art bietet der Autor in Einzelsitzungen und Seminaren an.
Weitere Infos via E-Mail: ivuna@web.de