Der Weg und die Kraft

Ich besitze seit Jahren eine schöne Übersetzung des Tao-te-king von R.L. Wing. Das Cover des Buches ist nicht sonderlich ansprechend. Dafür ist das Buch groß und leicht und neben den Texten stehen die Worte in chinesischen Schriftzeichen, während hier und da Bilder eingefügt sind und noch genügend Platz für Notizen oder Kaligrafieübungen gelassen wurde. Es gehört auf jeden Fall zu meinen Lieblingsbüchern. Die Texte sind von tiefer Weisheit durchdrungen, von großer Einfachheit und Schönheit. Sie versetzen mich jedes Mal schon nach wenigen Minuten des Lesens in einen herrlich ruhigen, friedlichen Zustand.

tao-te-kingWer schon einmal die tiefe Sehnsucht im Herzen gespürt hat, weiß, dass sie sich nicht so einfach verdrängen lässt. Nicht mit dem Malediven-All-Inclusive-Urlaub, mit der neuen App, dem pflaumefarbenen Rock, dem neuen Partner.

Das Tao-te-king, auch Daodejing, ist eines der schönsten philosophischen Werke der Menschheitsgeschichte. Es ist der am meisten übersetzte Text nach der Bibel. Um die 300 englische und über 100 deutsche Übersetzungen des Werks existieren bereits, und es kommen regelmäßig mehr hinzu. Schon im Chinesischen ist das Verständnis der Überlieferungen allerdings schwierig, da die chinesischen Schriftzeichen vieldeutig und kontextabhängig sind. Durch die Übersetzung in eine andere Sprache besteht noch einmal die Gefahr, dass der Sinn nicht richtig erfasst wird. Dies sollte einen aber nicht davon abhalten, sich von den wunderbaren Worten, die Lao-tse geschrieben hat, inspirieren zu lassen.

Bestätigt ist die Urheberschaft des Textes nicht. Lao-tse ist ein Ehrentitel und heißt sinngemäß »alter Meister«. Der chinesischen Tradition zufolge soll Lao-tse im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben. Die Zeit war von Unruhen und Kriegen geprägt und gleichzeitig eine Blütezeit der chinesischen Philosophie. Lao-tse war ein kaiserlicher Archivar, der vor den Wirren der Zeit in die Einsamkeit der Berge floh. Ein Grenzwächter des Bergpasses war seine Verbindung zur Welt. Er soll das Tao-te-king von Lao-tse zur Weitergabe überreicht bekommen haben.

Das Tao-te-king enthält Texte, die eine humanistische und zugleich transzendente Weltanschauung wiederspiegeln. Auf symbolisch gleichnishafte Weise, in einer Art Gedichtform wird erläutert, wie der Mensch sich von Ungerechtigkeit und Leiden befreit und inneren wie äußeren Frieden erlangt. Es ist ein politisches und philosophisches, ein mystisches und spirituelles Werk in einem.

taofish

Meist wird Tao (Dao ausgesprochen) mit »Weg« übersetzt und te mit »Kraft« oder »Lebenskraft«. King (auch Jing) deutet auf die »Textsammlung« hin, die als »Leitfaden« oder »Lehre« verstanden werden kann. Besonders die ersten beiden Wörter sind jedoch Begriffe, die auf etwas Unaussprechliches hinweisen. Tao z.B. umfasst das große Ganze, aus dem das Universum, die Welt und alles andere entstanden sind. Es stellt eine Art Ur-Leere dar, die gestaltlos und mit dem Verstand nicht fassbar ist und doch alles hervorbringt. In ihrem Wesen ist sie paradox, nicht erkennbar und doch absolut und kreativ. Auf den Geist und die Seele wirken die Worte des Tao-te-king dafür um so mehr.

Häufig geht es um das Nicht-Handeln, um die Absichtslosigkeit und Einfachheit. Diese Aspekte vermitteln uns eine Haltung, die von Hingabe geprägt ist. Statt alles im Voraus zu planen und kontrollieren zu wollen, wird einem geraten, sich vom Lauf der Dinge tragen zu lassen, ohne einzugreifen. In eine ähnliche Richtung gehen die häufig vorkommenden Aspekte der Einfachheit und Bescheidenheit. Nicht das Anhäufen von Dingen und Konzepten bringt uns weiter, sondern die Besinnung auf die wichtigen Dinge. So erst erhält das Leben Bedeutung und Tiefe. Auch die Konzentration auf das Selbst führt Lao-tse nicht zu Frieden, sondern die Fähigkeit, sich zurückzuhalten und sich nicht wichtig zu nehmen.

Nicht zuletzt stößt man im Tao-te-king immer wieder auf die polaren Kräfte, den Dualismus aller Kausalität. Erst durch das Aufheben jeglicher Gegensätze gelangt man dem Taoismus zufolge zu wahrer Weisheit, da weder das Positive, noch das Negative für sich eine ganze Wahrheit darstellt. Alle Eigenschaften in der Welt beziehen ihre Bedeutung nur aus der Existenz ihres Gegenteils. Etwas kann nur gut sein, wenn es auch etwas gibt, das schlecht ist. Doch in der Transzendenz dieser Polaritäten liegt das Tao begründet, das alles umfasst und dessen Weite und Fülle nur in der Stille erfahrbar wird – wenn wir eben nicht mehr beurteilen.

Lassen Sie sich von einigen Texten aus dem Tao-te-king inspirieren in sich zu gehen und Kraft zu schöpfen aus den Tiefen der Stille. Weitere Texte aus dem Tao-te-king finden sie in der Ausgabe 3/2015 von Newsage!