Der amerikanische Kultautor Carlos Castaneda hat in seinen »Lehren des Don Juan«, die er zwischen 1972 und 1998 in zwölf Bestsellern einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte, nicht nur seine Lehrzeit bei dem legendären mexikanischen Zauberer Don Juan Matus skizziert, sondern auch den »Weg des Kriegers«, ein alternatives Lebenskonzept und ein Pfad zur Freiheit. In einer Welt der scheinbaren »Alternativlosigkeit«, wie sie z.B. von Kanzlerin Angela Merkel gepredigt wird, kann ein solcher Weg einen echten Unterschied machen und uns aus den Zwängen festgefahrener Konventionen befreien.
Kritiker Castanedas haben sich immer wieder an dem Begriff des »Kriegers« gestört – er sei zu martialisch und wecke falsche Vorstellungen. Tatsächlich hat aber Castaneda diesen Begriff weder erfunden noch geprägt – er hat ihn aus einer alten Tradition übernommen, in der es keineswegs um das Erlernen oder die Pflege des Kriegshandwerks oder des Tötens geht. Ein Krieger zu sein bedeutet für die Anhänger jener Tradition eine besondere Herangehensweise an das Leben zu kultivieren, eine Einstellung, die den Krieger vom »Durchschnittsmenschen« unterscheidet.
Grundlage dieser Einstellung ist die Bewusstheit der eigenen Sterblichkeit, denn wie schon ein Vers des präkolumbianischen Nahua-Dichters Nezahualcóyotl sagt, sind wir »nicht gekommen, um ewig auf dieser Erde zu leben«. Wir alle wissen das, machen es uns jedoch nur selten wirklich bewusst. Was würden Sie anders machen, wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch kurze Zeit zu leben haben? Was würde es für Sie bedeuten, ständig in einem solchen Bewusstsein zu leben, ohne Furcht oder Reue? Für einen Krieger bedeutet es das Gegenteil von der alltäglichen Lethargie, dem Gefühl der Ausweglosigkeit oder der Alternativlosigkeit: Wir sind magische Wesen in einer magischen Welt, die meist gar keine Ahnung von den Kräften haben, die tatsächlich in uns schlummern.
Der erste Schritt, diese Kräfte zu wecken und sich von den lähmenden Alltagsgefühlen zu befreien, ist die Opferrolle abzustreifen, das heißt den Glauben, ein armes, hilfloses Geschöpf zu sein, endgültig hinter sich zu lassen und sich zu entscheiden, ein Krieger zu werden. Denn tatsächlich ist Kriegertum im Sinne der mexikanischen Zauberer keine Frage der Ausbildung, des Wissens oder des Könnens. Carlos Castanedas Gefährtin Taisha Abelar erklärt:
»Du kannst nicht ‚lernen‘, ein Krieger zu sein! Es ist lediglich eine Entscheidung, die du eines Tages für dich selbst und aus dir selbst heraus fällen musst. Jemand anderen zu bitten dich zu lehren, ein Krieger zu sein, ist der falsche Ansatz.«
»Übernehme die volle Verantwortung für die Tatsache, dass du ein sterbliches Wesen bist«, erläutert Carlos Castaneda diesen ersten und entscheidenden Schritt. »Akzeptiere sie, demütig und in aller Bescheidenheit. Da gibt es nichts zu diskutieren, da ist kein Platz für Zweifel und Ausflüchte. Stelle dich mitten in der Nacht vor einen Spiegel und schau hinein; betrachte das Wesen, das sterben wird. Und dann stelle dir im Angesicht deiner Sterblichkeit mit lauter und klarer Stimme folgende Fragen: ‚Was tue ich? Was ist die Summe all meiner Handlungen?‘«
»Entweder machen wir uns das Leben schwer und legen uns einen Haufen Steine in den Weg, oder wir leben bewusst und räumen die Steine auf dem Weg zu unserem Ziel aus dem Weg. Der Arbeitsaufwand ist der gleiche.« Carlos Castaneda
Das ist natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten, sich seiner eigen Vergänglichkeit bewusst zu werden – alles, was uns daran erinnert, dass wir keinerlei Garantie dafür haben, über den gegenwärtigen Moment hinaus zu leben, ist geeignet, uns in einen Zustand der Nüchternheit zu versetzen, in dem all die belanglosen Gedanken und Sorgen des Alltags von uns abfallen. Denn was bedeuten schon die meisten unserer kleinlichen Probleme im Angesicht des Todes?
Don Juan Matus nennt dieses Manöver »Den Tod als Ratgeber nehmen«, weil es uns in diesem Bewusstsein leichter fällt, Entscheidungen zu treffen, egal ob es um ganz alltägliche Belange geht oder darum, ein Krieger zu sein. Denn im Gegensatz zum Alltagsbewusstsein kennt dieser Zustand keine großen und kleinen Entscheidungen. Es gibt lediglich Entscheidungen, die im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gleich gründlich getroffen werden. Und ebenso verhält es sich mit den daraus resultierenden Handlungen, die nicht nur wohlüberlegt, sondern auch zweckdienlich und präzise sind. Ein Krieger gibt stets sein Bestes, da er weiß, dass seine Handlungen genau wie seine Entscheidungen endgültig und unwiderruflich sind.
»Komm mit uns«, sagte der Hahn.
»Etwas besseres als den Tod werden wir überall finden.«
Die Bremer Stadtmusikanten
Machen Sie daraus aber bitte keine Klosterdisziplin und keine deutsche Gründlichkeit, denn im Angesicht des Todes gibt es auch keinen Grund, sich Dinge oder Handlungen zu versagen, die einem wirklich Spaß machen. Gerade diese rücken in der Praxis oft zunächst in den Vordergrund oder werden zum ersten Mal bewusst genossen. Verlieren Sie also nicht den Humor und machen Sie auch Sachen, die Sie sich zuvor nie getraut haben. Was haben Sie zu verlieren?
Leben gemäß der Herausforderung
Viele von uns betrachten ihre täglichen Verrichtungen als lästige Pflichten. Der Gang zur Arbeit, der eigene Beruf, die persönlichen Beziehungen und sogar die sogenannte »Freizeit« sind oft eine einzige langweilige Routine oder eine drückende Belastung. Wenn wir dem Alltag hingegen mit dem Geist eines Kriegers begegnen, wird dieser vollständig transformiert, denn ein Krieger lebt gemäß der Herausforderung. Da alles seine letzte Handlung sein könnte, verwandelt er z.B. Gleichgültigkeit in Achtsamkeit und Reaktion in Aktion.
Was können Sie an ihrem Arbeitsplatz und in Ihrem Privatleben verbessern? Überall tun sich Möglichkeiten auf, wenn wir die Welt um uns herum nicht als gegebene Last, sondern als willkommene Herausforderung betrachten. Krieger sein ist eine Geisteshaltung, die das Leben und seine Gelegenheiten mit stets neuer Freude begrüßt, statt sich über Stagnation und Langeweile zu beklagen. Was stört Sie in Ihrem Leben am meisten? Wie könnten Sie dies ändern? Gehen Sie genau diese Sache als nächste Herausforderung an – Sie werden sich wundern, wie einfach und effektiv dies ist!
Lassen Sie sich aber nicht von blindem Hedonismus überwältigen. Der Kriegergeist strebt nämlich gerade nicht nach der Befriedigung des Egos, sondern sieht die »eigene Wichtigkeit« als einen Feind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Denn es ist eben diese eigene Wichtigkeit, die Präsentation und Verteidigung unseres Selbstbildes in der Welt, die unsere Energie bindet und unser Leben stagnieren lässt. Versuchen Sie stattdessen einmal eine Woche lang die Worte »ich«, »mein«, »mir« und »mich« bewusst aus Ihrem Wortschatz zu streichen.
Laut Don Juan sind wir gewöhnlich nicht einmal fähig, die kleinste Geschichte oder Erinnerung zu erzählen, ohne gleich selbst den Protagonisten zu geben. Selbst wenn jemand anderes etwas erzählt, gehen wir meist gar nicht auf dessen Geschichte oder Thema ein, sondern reden von uns: »Mir ist neulich sogar … Also, wenn das mir passiert wäre … Wenn du meine Meinung hören willst …« Wir beharren auf unserem monotonen »ich, ich, ich«, mit dem wir uns in den Vordergrund drängen und jede echte Kommunikation im Keim ersticken.
»Don Juan war daran interessiert, Geschichten und Ereignissen ihren eigenen Lauf, sie sich selbst entwickeln zu lassen«, erklärt die Castaneda-Gefährtin Florinda Donner-Grau. »Denn dann werden sie in jeder Hinsicht unendlich viel reicher, weil sie sich selbst öffnen. Betrachte das ‚Zeuge sein‘ als eine Übung, die du in jeder alltäglichen Situation praktizieren kannst – sei einmal nicht der Hauptdarsteller. Es ist bemerkenswert, was sich dann alles auftut.«
Wenn der Mensch sich seiner Wesensverwandtschaft mit der Welt nicht bewusst ist, lebt er in einem Gefängnis, dessen Mauern ihm zuwider sind. Wenn er aber dem ewigen Geist in allen Dingen begegnet, dann ist er in Freiheit gesetzt, denn dann erst entdeckt er den vollen Sinn der Welt, in die er hinein geboren wurde. Dann findet er sich selbst, wie er in voller Wahrheit ist, und sein Einklang mit dem All ist hergestellt. Rabindranath Tagore
Es geht also darum, sich vor einem »Ich, der große Krieger!« genauso zu hüten, wie vor allen anderen Formen des Eigendünkels, ganz gleich, ob diese als Geltungswahn und Arroganz zum Ausdruck kommen oder sich in Gestalt von Selbstmitleid oder Märtyrerkomplexen manifestieren. Wir sollten uns ihrer auch nicht schämen oder versuchen, sie künstlich zu übertünchen.
»Überdecke deinen Eigendünkel nicht, indem du Stolz durch falsche Demut oder gespielte Bescheidenheit ersetzt. Entscheidend ist zu erkennen, dass du weder mehr noch weniger wichtig bist als jedes andere Lebewesen. Anders zu denken würde bedeuten, wie die Ameise in einem Haufen zu sein, die eine besonders große Last trägt und deshalb denkt, sie sei die Größte, die beste Ameise überhaupt, während ich im nächsten Moment auf sie und alle ihre Kumpel trete und sie alle in ihrem Tod gleich sein werden. Irgendetwas wird eines Tages auf jeden von uns ‚treten‘, genau wie einer von uns auf einen Ameisenhaufen treten mag« (Taisha Abelar).
Ein Weg mit Herz
Wenn wir gelernt haben, unseren Eigendünkel im Zaum zu halten und alle Dinge des Lebens als lohnende Herausforderung anzugehen, werden wir auch fähig, unsere Wege neu zu wählen, alte Pfade zu verlassen und neue zu beschreiten. Es spielt dabei keine Rolle, was wir machen, denn im Angesicht unserer Vergänglichkeit sind nicht nur alle Ameisen gleich, sondern auch alle Wege. »Manche Wege führen um den Busch, andere durch den Busch«, witzelt Don Juan und verweist auf die einzig bedeutende Frage, die man sich beim Beschreiten eines neuen Pfades stellen sollte: »Ist das ein Weg mit Herz?«
Diese Frage sollte man sich ganz alleine und mit lauter Stimme stellen, unbeeinflusst von allen gesellschaftlichen Konventionen und Normen. Es geht weder um Gutmenschentum noch um Selbstbefriedigung. Einen Weg mit Herz erkennen wir daran, dass er uns nährt, schützt und voranbringt. Wenn wir als Krieger auf einem Weg landen, der kein Weg mit Herz ist, wird sich der Weg und alle Dinge auf ihm sehr schnell gegen uns wenden – er stößt uns gleichsam ab und wir sollten ihn verlassen und etwas Neues wagen.
Auch gibt es nicht den »einen« Weg mit Herz, weder für uns als Individuum noch für Krieger im Allgemeinen. Was für uns ein Weg mit Herz sein kann, hängt sehr stark von unserer eigenen Veranlagung ab. Daher ist es das Beste, einem potentiellen Weg mit Herz, ganz gleich, ob es sich um eine Arbeit, eine Beziehung oder was auch immer handeln mag, ein Stück lang zu folgen und uns dann noch einmal zu fragen: »Ist das ein Weg mit Herz?« Die Antwort liegt nicht in Worten, sondern einzig und allein in dem erfüllenden Gefühl, das einen echten Weg mit Herz auszeichnet. Es ist die wahre Herausforderung unseres Lebens, einen solchen Weg zu finden und seine ganze Länge zu gehen.
Das Wissen der Tolteken
Carlos Castaneda und die Philosophie des Don Juan
324 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-86264-265-6
Hans Nietsch Verlag
Carlos Castaneda und das Vermächtnis des Don Juan
267 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-86264-264-9
Hans Nietsch Verlag