Im Zeitalter der Vernunft glauben wir mehr denn je an die Kraft des rationalen Denkens und der bewussten Entscheidungen. Doch gerade unsere Wissenschaftler haben durch jüngste Erkenntnisse gezeigt, dass unser hochgelobtes Bewusstsein stets einen Schritt hinterherhinkt und dass sowohl unsere Entscheidungen als auch unsere kreativen Einfälle von unbewussten Prozessen gesteuert werden – und dies in einem Maß, dass viele Forscher sogar den vielzitierten »Freien Willen« in Frage stellen. Es ist also höchste Zeit für einen »Reality Check«, in dem wir uns nicht nur fragen müssen, wer oder was uns steuert, sondern in dem wir uns auch als menschliche Wesen neu definieren können, indem wir das Unbewusste mithilfe unserer Träume ausloten.
Bereits Anfang der 1980er Jahre machte der amerikanische Neurowissenschaftler Benjamin Libet die beunruhigende Entdeckung, dass unser Gehirn Bewegungsabläufe wie das Ballen einer Faust bereits einleitet, bevor der betreffende Mensch sich bewusst zu dieser Bewegung entschließt. Dies stellte die menschliche Willensfreiheit in Frage und wurde in Folge erhitzt diskutiert und es wurde oft versucht, die wissenschaftlichen Ergebnisse auf Messfehler zu reduzieren. Weitere Versuche von Hirnforschern wie John-Dylan Haynes (2008) oder Simone Kühn und Marcel Brass (2009) zeigten jedoch, dass sich eine Entscheidung bereits zehn Sekunden vor dem Moment der Bewusstwerdung klar im Gehirn abzeichnet – in neuronalen Begriffen eine Ewigkeit! Schauen Sie selbst einmal auf eine Uhr mit Sekundenanzeige, um sich klar zu machen, was dies bedeutet.
Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr als begreifen.
Novalis
Der bewusste Verstand der meisten modernen Menschen sträubt sich gegen die Implikationen dieser Erkenntnis – aber unsere Erfahrung sagt uns, dass sie korrekt ist. Denken Sie einmal an Ihre ersten praktischen Stunden in der Fahrschule zurück, welche Anstrengung es war, die Abläufe beim Führen des Wagens zu koordinieren und gleichzeitig auf den Verkehr zu achten. Im Laufe der Zeit wurden diese Abläufe zu sogenannten »Automatismen«, was letztlich heißt, dass wir unser Fahrzeug mehr oder minder unbewusst steuern – wir müssen nicht länger über Gangschaltung, Kupplung, Steuerung, Bremse und Gas nachdenken, sondern fahren einfach. Ähnlich ist es mit den zahllosen anderen alltäglichen Handlungen und Prozessen, die als Gewohnheiten die Basis all unseres Tuns bilden. So kommen auch unsere unbewusst gefällten Entscheidungen nicht aus dem Nichts, sondern werden durch Erlerntes, frühere Erfahrungen, Maximen unserer Kultur und Gesellschaft gelenkt, so dass sie einer gewissen Logik folgen, wenn auch nicht unbedingt der unseres bewussten Verstandes.
Die Unkenntnis dieser Tatsache führt dann allerdings häufig dazu, dass wir unsere Entscheidungen im Nachhinein falsch begründen. Wir passen das Geschehene sozusagen retrospektiv an unsere bewussten Vorstellungen von uns selbst und von unserer Welt an, damit die Kohärenz und das scheinbare Supremat unseres bewussten »Ich« erhalten bleiben.
Doch letztlich ist unser Ich ein König ohne Land, eine winzige Insel auf dem gewaltigen Ozean des Unbewussten, der ebenfalls zu uns selbst zählt, denn von den vielen tausend chemischen Reaktionen, die ständig gleichzeitig in all unseren Zellen ablaufen, bis hin zu den komplexen neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn ist alles Teil unseres Selbst, wenn auch nicht unter Kontrolle unseres bewussten Ich.
Das Ich, das Selbst und das Bewusstsein
Am besten stellt man sich das Ganze anhand eines Modells vor, das der Psychologe C.G. Jung von der Gesamtheit unserer Psyche zeichnet. QDie Psyche ist mit einer Kugel zu vergleichen«, sagt er, »die auf ihrer Oberfläche ein helles Feld (A) hat, welches das Bewusstsein darstellt. Das Ego ist das Zentrum des Feldes (bewusst ist etwas nur dann, wenn ‚ich‘ es weiß). Das Selbst ist der Kern und gleichzeitig die ganze Kugel (B).« (s. Abb. links)
Diese Modell entspricht erstaunlicherweise der Überlieferung der toltekischen Seher des alten Mexikos, die den Menschen nicht als physischen Körper, sondern als »leuchtendes Ei« sehen. Sie sagen, der Kosmos bestehe aus einer unendlichen Ansammlung von Energiefeldern, die dünnen Lichtfasern gleichen.
Auch der Mensch bestehe aus einer abgeschlossenen Ansammlung solcher Fasern, die sich als eine Art Lichtkugel um uns herum erstreckt. Nur ein winziges Spektrum von Energiefeldern wird im inneren der Kugel beleuchtet, und zwar von einem intensiv leuchtenden Punkt, der sich an der Oberfläche der Kugel befindet. Dieser sogenannte »Montagepunkt« bestimmt, welche Fasern und Felder wir als unsere Welt wahrnehmen – er »montiert« unsere Wahrnehmung und damit unsere Welt.
In unserem alltäglichen Bewusstseinszustand ist der Montagepunkt stets an derselben Stelle auf der Schale der Kugel fixiert, auf einer Position, die erst einmal durch den Prozess der Sozialisation, den die toltekischen Seher passend »Platzanweisen« nennen, erlernt werden muss. Eltern und Lehrer sind sozusagen Platzanweiser für ihre Sprösslinge und Schüler – sie lehren uns, was »normal« ist, was zur Folge hat, dass die gesamte Menschheit eine mehr oder minder einheitliche Position des Montagepunktes einnimmt und damit dieselbe Weltbeschreibung und -interpretation teilt. Das war nicht immer so, doch im Prozess der globalen Gleichschaltung hat auch eine weitgehende Vereinheitlichung der menschlichen Wahrnehmung stattgefunden, derer wir uns meist nicht wirklich bewusst sind.
Ich weiß nicht, ob ich ein Mann bin, der träumt, ein Schmetterling zu sein, oder ob ich ein Schmetterling bin, der träumt, ein Mann zu sein…
Dschuang Dsi (350 – etwa 275 v. Chr.)
Lediglich im Schlaf rutscht der Montagepunkt auf natürliche Weise in die Kugel hinein, wodurch Energiefelder im Inneren erhellt werden, die normalerweise ungenutzt sind. So entstehen den Tolteken zufolge die Träume, die Wahrnehmung einer separaten Traumwelt. Auch Drogen, schwere Krankheiten, Fieber, Hunger oder traumatische Erlebnisse können eine solche Verschiebung des Montagepunktes hervorrufen, wobei bei jeder Verschiebung eine andere Welt montiert, d.h. durch den Montagepunkt zur Wahrnehmung ausgewählt wird – ganz gleich ob wir diese Wahrnehmung nun als Halluzination oder Fantasie abtun.
So seltsam diese Weltbeschreibung auch klingen mag – sie erklärt die Notwendigkeit des Schlafes und des Träumens erstmals dadurch, dass wir einfach nicht genug Energie zur Verfügung haben, unseren Montagepunkt ständig auf der Position des Alltagsbewusstseins zu fixieren. Nach einer Zeit fällt es uns immer schwerer, unser Bewusstsein aufrecht zu erhalten, der Montagepunkt beginnt zu zittern und in Extremfällen wie bei längerem Schlafentzug stellen sich erwartungsgemäß zunehmend Halluzinationen ein, die von kleineren und größeren Verschiebungen des Montagepunktes bewirkt werden. Bis wir schließlich einschlafen, um am nächsten Morgen wie durch ein Wunder erfrischt wieder aufzuwachen.
Machen Sie einmal direkt vor dem Einschlafen folgendes Experiment: Lauschen Sie auf Ihre eigenen Gedanken, Ihren inneren Dialog. Versuchen Sie nicht, Ihre Gedanken zu kontrollieren, nehmen Sie lieber eine unvoreingenommene Zeugenposition ein, ganz so als ob Sie anderen Menschen bei einem Gespräch zuhören. Welche Klangfarbe haben ihre Gedanken? Ist das immer noch Ihre eigene Stimme? Lauschen Sie, hören Sie sich selbst furchtlos zu, ohne auf Inhalte zu achten. Achten Sie lediglich auf den Klang – Sie werden staunen, was dabei herauskommt!
Loslassen und Festhalten
Die toltekischen Seher haben über die Jahrtausende zwei komplementäre Künste entwickelt, die Kunst des Träumens und die Kunst des Pirschens. Beim Träumen geht es darum, den Montagepunkt in Bewegung zu bringen, sei es durch den natürlichen Vorgang der Träume oder durch ausgefeilte Techniken des sogenannten »Nicht-Tuns«, bei dem eben jene Routinen und Gewohnheiten durchbrochen werden, welche die meiste Energie verbrauchen – dazu zählt natürlich die ständige Aufrechterhaltung und Verteidigung unseres Egos, unsere eigene Wichtigkeit. Das Stichwort ist »Loslassen« und alles, was uns dabei hilft, sei es Meditation oder Musik, ist willkommen.
Beim Pirschen geht es um das genaue Gegenteil, das heißt darum, den Montagepunkt auf einer neuen Position zu fixieren. Denn nur so können wir alternative Montagepunktpositionen tatsächlich als neue kohärente Welten wahrnehmen. In normalen, aber auch in luziden Träumen, in denen der Träumer sich bewusst wird, dass er träumt, ändern sich Szenerie und Handlung unwillkürlich und ständig, was am Driften des Montagepunktes liegt – er ist eben nicht auf seiner neuen Position fixiert. Um ihn dort zu fixieren, bedarf es bestimmter Routinen, damit man nicht nur im luziden Traum erwacht, sondern diesen dann als eine feste, kohärente Welt wahrnehmen kann. Sehr gut eignet sich hierfür das von Carlos Castaneda empfohlene Auf-die-Hände-Schauen, bei dem man abwechselnd auf seine Traumhände und dann wieder auf die Umgebung sieht. Sobald man spürt, dass der Traum sich ändert oder das Bewusstsein schwindet, sollte man mit dem Blick zu den Händen zurückkehren, um sich dann wieder dem Traumgeschehen zuzuwenden. Wenn dies einmal als Routine verinnerlicht ist, bleiben auch die Träume stabil.
Loslassen und Festhalten sind das ganze Geheimnis der toltekischen Künste, ein Zusammenspiel wie bei einem Muskel, der ebenfalls erst durch wechselnde Anspannung und Entspannung seine Arbeit verrichten kann. Mithilfe dieser Technik können wir dann unser Bewusstsein nach und nach auf jeden beliebigen Teil unserer leuchtenden Kugel verlagern, um so jenseits unseres begrenzten Egos die Ganzheit unseres Selbst zu erkunden, die sich in der Wahrnehmung scheinbar fremder Welten und neuer Erfahrungen widerspiegelt.
Entwicklung aus dem Unbewussten
Für Sigmund Freud war die Traumdeutung der Königsweg zum Unbewussten, wobei Freud die Betonung ganz klar auf »Deutung«, also die bewusste Interpretation derselben legte. Für C.G. Jung waren die Träume eher Stufen auf dem Weg zur Individuation, d.h. zur persönlichen Entwicklung von einem begrenzten Ego hin zu einem größeren Selbst. Für die toltekischen Seher war und ist die Kunst des Träumens der Weg zur Bemeisterung der Bewusstheit und zur Ganzheit des Selbst – also ebenfalls ein Sprungbrett zu einer echten Entwicklung, ganz im Gegenteil zu dem, was heute in unserer Gesellschaft gerne als »Entwicklung« bezeichnet wird. Letzteres ist keine Entwicklung im Sinne von Ganzwerdung oder der Entdeckung neuer Qualitäten, sondern lediglich eine Perfektionierung und Aufrechterhaltung bekannter Strukturen – das Hätscheln des Egos und die Verteidigung seiner kleinlichen Werte.
Echte Entwicklung kommt stets aus dem vormals Unbekannten, also aus dem Unbewussten. Wie ich schon im Artikel »Die Kunst des Träumens« (in newsage 3/2014) ausgeführt habe, stammen nicht nur viele Errungenschaften der modernen Wissenschaft (die Grundlagen der organischen Chemie, das Periodensystem der Elemente, die Entdeckung des ersten Neurotransmitters, die Grundlagen der Relativitätstheorie etc.) direkt oder indirekt aus Träumen – auch die Kreativität vieler Künstler ist maßgeblich durch Träume oder die Arbeit mit dem Unbewussten geprägt worden (z.B. Hermann Hesse, Salvador Dali, Federico Fellini u.v.m.). Unsere eigene Innenwelt, die, wenn wir den toltekischen Sehern glauben, vielleicht gar nicht so sehr in uns liegt, hat uns viel mehr zu bieten als die uns bekannte Alltagswelt, in der es scheinbar nichts mehr zu entdecken gibt.
Tatsächlich haben Träume die Menschheit seit ihren frühesten Ursprüngen vorangetrieben und sind wahrscheinlich auch für die ersten religiösen Regungen im Menschen verantwortlich. So sind viele Paläoanthropologen aufgrund von Funden aus der Steinzeit zu der Überzeugung gelangt, dass es Träume waren, die im frühen Menschen eine erste Vorstellung von einem Leben nach dem Tod gesät haben. Denn im Traum traf man die Verstorbenen schließlich wieder, konnte sich mit ihnen unterhalten, als sei nichts geschehen. Ebenso konnte man im Traum selbst wieder und wieder sterben, nur um am nächsten Tag oder im nächsten Traum unversehrt aufzuwachen. Die potenzielle Unsterblichkeit der Seele ist eine Lehre, die uns unser Unbewusstes immer wieder nahelegt und nahegelegt hat – ganz gleich, ob man daran glaubt oder nicht, für unser innerstes Selbst scheint diese Botschaft wichtig und richtig zu sein.
Achten auch Sie wieder auf die Botschaften Ihrer Träume, ob Sie Ihnen angenehm sind oder nicht. Sie kommen nicht aus wirren Quellen, sondern aus unserem tiefsten Inneren, aus der kollektiven Erfahrung der Menschheit und alles Lebendigen, das unsere Linie bis zum heutigen Tag bildet. Ohne das tiefe Wissen und die uralte Weisheit unseres wahren Selbst sind wir nur halbe Menschen, Marionetten, die im Takt zur Musik unserer egozentrischen Gesellschaft tanzen. Viele fürchten sich davor, aus der Reihe zu tanzen, nicht nur weil der gesellschaftliche Konsens schreit, dass Träume lediglich »Wunscherfüllungsfantasien« oder Produkte neuronaler Müllverwertung von »Tagesresten« seien. Wenn dem so wäre, hätten wir heute weder eine Kenntnis von den Grundlagen organischer Chemie, wüssten nichts über die Struktur der DNA, noch könnten wir die Elemente in einem strukturierten System bewundern. Selbst die Nähmaschine wäre nie erfunden worden. Also alles nur Schäume? Sicher nicht. Träume sind der Königsweg zur Entwicklung auf allen Ebenen.
Das Wissen der Tolteken
Carlos Castaneda und die Philosophie des Don Juan
324 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-86264-265-6
Hans Nietsch Verlag
Carlos Castaneda und das Vermächtnis des Don Juan
267 Seiten, € 14,90
ISBN: 978-3-86264-264-9
Hans Nietsch Verlag