Gestorben um zu leben

Nepal: Zentrum des Schamanismus

Gut 30 Millionen Einwohner zählt der nepalesische Staat, der zwischen China und Indien nicht nur geographisch, sondern auch kulturell ein besonderes Nischendasein führt. Das als Himalaya bekannte 70 Millionen Jahre alte Faltengebirge prägt diese faszinierende Region ebenso wie das fruchtbare Kathmandutal und der allgegenwärtige Schamanismus, der hier noch gelebte Praxis ist.

Nepal gilt als Zentrum und Geburtsstätte des asiatischen Schamanismus – und das ist sicher keine Übertreibung oder ehrerbietende Verklärung. Das Kathmandutal ist seit alters her Schmelztiegel der großen asiatischen Kulturen und Religionen gewesen. Hinduistische, chinesische, aber auch tibetische und vedische Einflüsse sind bis heute hier spürbar, große Heiligtümer und Geburtstätten der entsprechenden Gottheiten werden auch jetzt noch von jenen Nachbarländern und ihren Bewohnern im Intermedium, im Verbindungsland zwischen China und Indien, dem Staat des Himalaya, aufgesucht.

Wie der Ursprungspunkt einer religiös vielfältigen und mächtigen Spirale leuchten die heiligen Berge und Täler des Kathmandutals: Goldene buddhistische Stupas, geheime Tantra-Tempel, heilige Wasserfälle inmitten immergrüner Vegetation, sie alle laden ein sich dem Wesen und den Aspekten derjenigen Kraft, die hinter all diesen magischen Symboliken und den gewaltigen Kräften zu stehen scheint, anzunähern, um den Stimmen der Schamanen zu lauschen.

Im frühen Morgengrauen erstürmen unzählige Jhankris mit ihrem Zug den Gipfel des Kalinchok.

Die Newari, eine der zahlreichen traditionellen ethnischen Gruppen, die den Großteil der nepalesischen Bevölkerung ausmachen, glauben nicht zufällig daran, dass die Wiege des asiatischen Schamanismus und die Geburtsstunde ihrer kulturellen Wurzeln vor 60.000 Jahren an eben jenen Stätten lag. Was für den modernen Wissenschaftler und seine kausalen Konzepte nahezu unvorstellbar erscheint, ist für den modernen wie für den traditionellen Schamanen offensichtlich, für den Außenstehenden anhand der tatsächlich vorhandenen Kraft immerhin zu erahnen und mit der entsprechenden Offenheit auch zu spüren und zu begreifen.

Die nepalesische Kultur ist eine der wenigen auf der Welt, die sich nicht durch fremde religiöse Einflüsse, speziell durch christliche, hat verwandeln lassen. Von klein auf lernen hier die Menschen sich entsprechend schamanistischer Glaubensvorstellungen zu verhalten und zu bewegen. Der Umgang mit Mantras, Yantras und Mudras, das Wissen um Shiva, Shakti, Parvati oder Ganesha sind den Einheimischen so bekannt wie dem Westler das Logo von Coca-Cola. Die Reise auf den 4000 Meter hohen Kalinchok, dem zentralen der drei heiligen Berge im Gebiet der ansässigen Schamanen (neben dem westlichen Machapuchare und dem östlichen Phurbo Seta Himal nahe beim Mount Everest), wird nicht nur von eben jenen Magiern in mühseligen Wanderritualen auf sich genommen, sondern von ganzen Familien, Dorfgruppen oder anderen Gemeinschaften. Jedes Mitglied dieser Kultur spürt und weiß um die Bedeutung des Kalinchok und pilgert auf seine Spitzen.

Das heiligste Fest der Schamanen ist der Shiva-Mond, jener Vollmond im August, bei denen sie heilige Shakti-Energie aus dem Nektar des Mondes gewinnen, der sich in den frühen Morgenstunden über die Bergkuppen ergießt. Dieses Fest, „Jhankri Mela“ genannt, ist der Beginn des schamanistischen Jahres und wie alle Feste und Arbeiten tief in das natürliche Gleichgewicht der natürlichen Begebenheiten eingebettet. Um diese Zeit wirbeln die ersehnten, aber auch gefürchteten Wassermassen des Monsuns über die Region und bringen Fruchtbarkeit, aber auch Erkältungen, Schwächeanfälle und Kreislaufprobleme; man sagt die Götter machen „Betriebsferien“ und überlassen den Unterwelts-Herrschern vorübergehend das Kommando.

Ganesha-Thanka im typischen Newari-Stil, in der tantrisch roten Körperfarbe und mit schamanischen Ritualgeräten in den Händen.

Der vielleicht wichtigste Aspekt nicht nur des nepalesischen Schamanismus wird in dieser natürlichen und religiösen Symbolik offensichtlich: die Todeserfahrung als notwendige Konfrontation der unabdingbaren Gegensätze Leben und Tod, die sich erst in der vollständigen Annahme, in einer Art Symbiose verbinden dürfen. Reisen in die Welt der Toten, der Verlust, der Verzicht und die Aufgabe irdischer und persönlicher Werte müssen von jedem Schamanen gelebt und verstanden werden. Ganesha, die elefantenköpfige Gottheit, die „aus Shivas und Parvatis Lust geborene“, ist deswegen der „erste“ Schamane, weil sein Werdegang exemplarisch für die gegensätzlichen Erfahrungen des Daseins steht.

Christian Rätsch, Ethnobiologe und Schamanismus-Experte speziell für die nepalesische Region, die er schon mehrere Jahrzehnte kennt und bereist, spricht aus eigener Erfahrung von mächtigen schamanistischen Friedhofsritualen, denen er beiwohnen durfte. „Mehrere Stunden lang lag ich nachts auf diesem Grabstein“, erzählt er uns im Gespräch. „Der Schamane hatte mich aufgefordert, mich da hinzulegen und bescherte mir so eine tief greifende, spirituelle Erfahrung.“

Neben den Totenreichen, reisen die Schamanen aber auch in andere Welten, traditionell in die drei gängigen Welten: die Ober-, Mittel- und Unterwelt. Dies geschieht ihrer heilenden und altruistischen Aufgabe zufolge, um Formeln, Kräfte oder Möglichkeiten zu entdecken, die dazu beitragen, Patienten, Klienten oder die Dorfgemeinschaft im Krankheits- oder Schwierigkeitsszenario zu heilen. Der Schamane ist klassischerweise immer ein Heiler und Arzt gewesen – schwarzmagische, wunderwirkende Vorstellungen, die viele Menschen im Westen mit Schamanismus identifizieren, spielen ursprünglich keine Rolle. Die häufig öffentlich gestellte Diagnose und Anamnese der Patienten und die entsprechenden Arbeiten in Trance unter Zuhilfenahme von „Soma“, dem göttlichen Nektar respektive „Amrita“, der enteogenen Wirkkraft entsprechender Kraftpflanzen, sind Teil dieses Prozesses.

Rätsch betont, dass „Soma“ seit vielen Jahren in ethnobiologischen Kreisen fälschlicherweise ausschließlich als „Fliegenpilz“ übersetzt wird, was schlicht und ergreifend nicht zutreffend ist. „Soma“, der Nektar oder das göttliche „Amrita“, sind Teil jedweder Kraftpflanze, die wiederum Bestandteil dieser ritualisierten Zeremonien ist. Weitere wichtige Techniken sind das Trommeln, die Andersweltreise selbst und das Sprechen von Mantras, eines besonders geheim gehaltenen Rituals, über das äußerst selten etwas verraten wird. All dies sind Aufgaben des Schamanen, die praktischen Nutzen für das Individuum und darüber hinaus für die Gemeinschaft haben sollen. So ist es in diesem Verständnis von kosmischer und natürlicher Harmonie kein Wunder, dass die Krankheitsanamnese eines Clan-Mitgliedes öffentlich abgehalten wird. So weiß jedes Gemeinschaftsmitglied, welcher Teil der Gesellschaft aus der gesunden Balance gefallen ist und in welchem Maße. Dies dient keineswegs der Denunziation, sondern vielmehr dem Verständnis, wie es um das Individuum als Teil des Ganzen bestellt ist.

Stirbt ein Mitglied der Gemeinschaft, ist es die Aufgabe des Schamanen, diesen in das Reich der Toten zu überführen. Wie in vielen anderen transzendeten Vorstellungen dieser Welt muss durch entsprechende Zeremonien und Rituale die Seele des Verstorbenen vom Körper und von der Bindung an die Familie und den sozialen Verbund gelöst werden, damit sie sich fortan frei und unbeschwert weiterbewegen kann.

Darti Mata, die Erdgöttin, wird in Kirtipur auch von Kindern verehrt.

Werden entsprechende Zeremonien abgehalten, sind diese nur dann als heilend und magisch zu betrachten und zu verstehen, wenn die Gabe eines Opfers Teil dieses Aktes ist. Dem Prinzip des Gebens und Nehmens als universellem Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit wird Ganesha-Thanka im typischen Newari-Stil, in der tantrisch roten Körperfarbe und mit schamanischen Ritualgeräten in den Händen hier Rechnung getragen. „Ich kann, von welcher Welt auch immer, nicht erwarten, dass ich etwas bekomme, ohne dafür auch meinen Teil gegeben zu haben“, betont Rätsch in Anerkennung dieses Wissens.

Ganesha, der oben erwähnte „erste“ Schamane, ist, nachdem er von seinem Vater Shiva unbeabsichtigterweise getötet wurde, aufgrund eines solchen Opfers mit einem Elefantenrüssel ausgestattet. Shiva, der sich nach dem Tode schwor, seinem Sohn ein Opfer zu machen, wählte das erstbeste Wesen, das ihm über den Weg lief, in diesem Fall einen Elefanten, und hauchte mit der körperlichen Symbolik dieses Opfers dem Getöteten neues Leben ein. Durch die Erfahrung höchster Wonnen (Geburt als göttliches Wesen) und größtem Zorn (Tod des Vaters aus Eifersucht) entsteht die symbiotische Figur des Ganesha, der diesen gegensätzlichen emotionalen und existentiellen Energien sein Dasein verdankt. Er ist der primäre initiierte Schamane und Vorbild für viele weitere, die besonders in diesen Gegenden der Erde verstärkt und vor allen Dingen traditionell anzutreffen sind.

Das tief greifende Wissen um die entsprechenden Zusammenhänge lässt sich zwar in vielen Büchern nachlesen, aber das wirkliche Überleben dieser Traditionen hat sich mit der entsprechend traditionellen Kraft hauptsächlich in Nepal so erhalten und ist Ziel zahlreicher Suchender aus aller Welt. Eine echte Bestandsaufnahme aus schamanischer Sicht gelingt Claudia Müller-Ebeling und Christian Rätsch, die mit ihrem Werk „Schamanismus und Tantra in Nepal“ schon vor acht Jahren einen Klassiker für die schamanistische Ewigkeit geschaffen haben, der viele faszinierende Yantras und Bilder enthält und der wunderbar in das ganze Spektrum dieser Thematik einführt.

Wie selten und begehrt solche Ansichten sind, zeigt sich unter anderem darin, dass vor der derzeitigen Neuauflage dieses Standardwerkes zum Teil mehrere hundert Euro bei eBay für das Buch geboten wurden – und das trotz oder gerade weil es den Schamanismus als eine völlig reale und wahrhaftige kulturelle Erscheinungsform präsentiert, die nichts mit den hilflosen und völlig falschen Tradierungen in der westlichen Welt zu tun hat, sondern mit Leben und Tod, mit Lust und Liebe, mit Bergen, Flüssen, Pflanzen und Tieren, mit der ursprünglichen, unbegreiflichen Kraft der Natur und des Daseins.

BUCH-TIPP
Claudia Müller-Ebeling, Christian Rätsch
Schamanismus und Tantra in Nepal
320 Seiten, € 49,90
ISBN: 978-3-03800-426-4
AT Verlag