Die Schneeberge des Tien-Shan |
newsage: Cambra, du warst im Sommer 2008 in Kirgistan, was hat dich denn dorthin gerufen?
Cambra Skadé: Für mich war es eine Fortsetzung meiner vorherigen Reise in den Altai/Sibirien. Dort war mir klar geworden, dass das nomadische Leben und die Steppe wie eine Heimat für mich sind, und in mir war der Wunsch erwacht, einen Sommer lang mit den Pferden den nomadischen Geist und die Steppe zu erfahren. Außerdem gingen der Reise drei Einladungen voraus und so brach ich dann auf.
newsage: Du hast gerade von einem Heimatgefühl gesprochen. Wie hat sich das in Kirgistan bestätigt?
Kirgisische Frauen |
Cambra: Tatsächlich hatte ich das Gefühl, in meiner tiefsten Seelenheimat angekommen zu sein. Ganz Zentralasien fühlt sich für mich an wie „Heimat“: Sibirien, Hindukusch, Kirgistan, Usbekistan, Tibet, eben die Himalaya-Gegend. Vor allem aber das nomadische Leben dort ist mir tief vertraut, das gilt auch für die turkomongolische Sprache. Ich merkte, dass ich wusste, was zu tun ist. Die Handgriffe zum Aufbau der Jurten kamen wie von selbst; ich wusste, wer in der Jurte wo seinen Platz findet, wie man miteinander umgeht, wie man mit den Herden unter freiem Himmel lebt. Erstaunlich war auch, dass mir die angebotenen Speisen, die meinen hiesigen Ernährungsgewohnheiten so gar nicht entsprachen, sehr gut taten. Alles war sehr vertraut und selbstverständlich.
Cambra Skadé in den Sandbergen am Isyk-Köl |
newsage: Wie haben die Nomaden auf dich gewirkt?
Cambra: Der Umgang mit diesen freundlichen Menschen fühlte sich sehr familiär an. Ich konnte erleben, wie man auf ganz engem Raum miteinander lebt und es gleichzeitig erlaubt ist, sich innerlich zurückzuziehen. Man sah es an den Augen und spürte es an der Energie eines Menschen, wenn er das brauchte. Er blieb zwar in der Gemeinschaft, hatte aber die Erlaubnis, sich innerlich zu entfernen. Das war für mich faszinierend. Für uns ist das ja oft ungewohnt; uns fehlt die Akzeptanz für den Rückzug, eher wird eine Dauerpräsenz gefordert, und das ist oft auch anstrengend, denn niemand kann ständig präsent sein. Die Nomaden hingegen brauchen und nutzen diesen inneren Raum. Es ist, als ob sie die Türen zur Außenwelt schließen würden, um ihren Innenraum aufzusuchen. Manchmal schweigt man auch miteinander … über Stunden – wie bei den langen Ritten. Dadurch wachsen Tiefe und Qualität der Beziehungen. Für mich war es sehr wohltuend zu erleben, wie diese Freiräume dazu beitrugen, die enge Gemeinschaft noch zu vertiefen. Vielleicht hat mich das auch zu der Liebesgeschichte inspiriert, die ich geschrieben habe. Da waren so viele Heimatgefühle, so viel Vertrautes und gleichzeitig so viel Weite, Freiraum. Das ist ein guter Boden für eine Liebesgeschichte.
Cambra Skadé und eine Bübü (kirgisische Heilerin) |
newsage: Wie hat sich dir die Liebesgeschichte denn eröffnet?
Cambra: Über die Schönheit des Landes und dessen Vielfalt – die Wüste, die Schneeberge, die Taiga, die Steppe. Alles ist mächtig und weit. Die Berge sind fast 8000 Meter hoch, die Binnenseen groß. Das Erleben der äußeren Weite hat mir so etwas wie meine innere Weite geöffnet – etwas in mir konnte in Resonanz gehen und gleichzeitig ist mir sehr schmerzlich bewusst geworden, dass wir gerade einen kostbaren Schatz verlieren. Das wunderbare Land mit seinen uralten Gesetzen ist durch den Klimawandel bedroht. Zerstört wird, was in seiner Kostbarkeit noch zu erfahren ist. Ich war sehr berührt. Ich fühlte mich diesen Menschen, ihrem Land und ihrem Leben verbunden und plötzlich wurde mir inmitten der Weite klar, dass es keine Trennung gibt zwischen all den Wesen auf diesem Planeten. Wir sind eine große Gemeinschaft. Jede/r Einzelne von uns ist verantwortlich für alles. In mir tauchten Gefühle der Hilflosigkeit, der Traurigkeit, des Berührtseins und eine unendlich große Liebe zum Leben auf. Und diese Liebe schmeckte köstlich. Dieses Berührt-in-Resonanz-Sein hat mich auf meiner Reise dann nicht mehr verlassen.
Jurtenmatten flechten |
newsage: Was hat diese starke Liebe zum Leben in dir bewirkt?
Cambra: Zu meiner persönlichen Vertrautheit und intensiven Verbundenheit hat sich etwas Drittes gesellt. Ich spürte, dass die uralte Wurzel des Menschseins – die Verbindung, die weit zurückreicht in der Zeit, vielleicht bis zum Uranfang – noch lebte. Ich ahnte plötzlich, dass wir alle einst so gewandert sind, in den Frühling hinein. Wir alle haben einmal nomadisch gelebt, sind dem Frühling, dem erwachenden Leben, zu den Weidegründen gefolgt … Eine tiefe Sehnsucht erwachte in mir. Ich sehnte mich nach den Gesetzen der alten Gemeinschaften. Ich wusste, dass es falsch war, etwas erzwingen zu wollen, etwas in das eigene System hineinpressen zu wollen. Richtiger war es, den uralten Naturgesetzen zu folgen, mit dem Leben zu gehen … Vertrauen und Hingabe blieben bei mir und nährten die Liebesgeschichte.
newsage: Welche Bedeutung gibst du dem Leben?
Cambra: Eine der vielen Bedeutungen wurde mir auf recht ungewöhnliche Art eröffnet. Wir sind durch reißende Flüsse geritten, schmale Bergpfade hinauf, über enge Pässe – und in diesen Situationen wurde mir bewusst, dass es keine Garantie gibt dafür, dass man auch wirklich an einem Ziel ankommt. In dem Augenblick, wo man durch den reißenden Fluss geht, muss das Pferd angetrieben werden; gleichzeitig muss man schauen, ob alle anderen ihr Gepäck noch haben und auch durchkommen, dass der Hund nicht abgetrieben wird … solche Extremsituationen sind Momente höchster Lebendigkeit, Aufmerksamkeit und Präsenz. Sie zeigen, wie fragil das Leben ist und wie kostbar. Es ist ein Geschenk, auf der Hochweide anzukommen. Es könnte auch anders sein und man selbst hat relativ wenig Einfluss darauf. Die Nomaden wissen das und reisen deshalb mit Gebeten und Segenssprüchen, in stetem Austausch mit der Natur. Aufbrechen und Ankommen haben bei ihnen eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Bei uns fehlt die Bewusstheit – wir haben es vergessen und wähnen uns in Sicherheit. Obwohl wir genauso wenig sagen können, dass wir tatsächlich an unserem Ziel ankommen werden.
Die Pferdefrauen |
newsage: Das nomadische Leben ist recht reduziert. Welche Vorteile hat es in deinen Augen?
Cambra: Natürlich hat das einfache Leben Vorteile: Man konzentriert sich auf das Wesentliche. Nomaden sind präsent und zentriert; sie reisen mit kleinst möglicher Ausstattung. Das Leben fragt hier fortwährend: Was brauchst du wirklich? Umso kostbarer ist die wenige Habe. Die Nomaden müssen sich unentwegt den Gegebenheiten anpassen und Gewohnheiten hinter sich lassen. Eingebunden in ein uraltes System der Traditionen, das auf Erprobtem und Bewährtem gründet, erhalten sie sich die große Flexibilität, die sie zum Überleben brauchen. Während die Tradition sie stützt und schützt in der Gemeinschaft, muss ihr Geist sich ganz frei immer wieder neu anpassen. Wenn man auf Reisen geht, wird man durch das heilige Gesetz der Gastfreundschaft geschützt. Man muss nur wenig mitnehmen, denn überall bekommt man Unterkunft und Verköstigung; man ist in jeder Jurte willkommen. So reist man sicher und behütet über riesige Entfernungen. Dieses Gastrecht verbindet die Menschen untereinander, die Clans, Vertraute und Fremde. Für mich ist es einer der Grundsteine für ein friedliches Leben. Wenn wir das Gastrecht heiligen, weben wir tiefe Fäden untereinander. Es gehört zur Basis des Lebens, einander willkommen zu heißen und geschützten Raum anzubieten.
Gespräche am Steppenfeuer |
newsage: Was war für dich das größte Geschenk der Reise?
Cambra: Ich habe ein uraltes Lebensgesetz wiederentdeckt und das Wilde, das Abenteuer, das Unberechenbare des Lebens. Ohne Sicherheit zu sein kann bedeuten, dass man sich tief einlässt auf die Intensität des Lebens. Ich bin in dieser unendlichen Weite in mir selbst angekommen, an meinem eigenen inneren Feuer, und bin gleichzeitig in (m) eine Weite eingetaucht. So hat sich in mir eine tiefe Liebesbeziehung zum Dasein entwickeln dürfen. Dieses Gefühl möchte ich gern weitergeben. Ich habe in Kirgistan gelernt, dass es die Weisheit dieser uralten nomadischen Kulturen ist, die das Tragende für die Themen der kommenden Erdenbewohner bereithält. Dazu gehört, dass man sich in der Tiefe als Gemeinschaft begreift und einander willkommen heißt.
Danke Kirgistan!