Leben ohne Stress

Reizüberflutung und Überforderung parallel zu spürbar zunehmenden äußeren Zwängen und Existenzängsten vermitteln vielen Menschen das Gefühl, den täglichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden zu können. Als Reaktion darauf stellen sich Stresssymptome ein, da oftmals nicht das System, sondern die eigene Person in Frage gestellt wird. Doch Stress lässt sich vermeiden; auch angesichts schwieriger Lebensumstände ist es möglich, ein Höchstmaß an Lebensqualität zu entwickeln. Das Schlüsselwort dazu heißt Achtsamkeit.

Doris Kirch, Dozentin, Coach und Therapeutin im Gesundheitswesen mit Schwerpunkt Stressbewältigung, fand vor über fünfundzwanzig Jahren zur Meditation. Die Begegnung veränderte ihr Leben: Sie wurde Zen-Schülerin, bildete sich im therapeutischen Bereich konsequent weiter und gab fünf Jahre später ihren Beruf im Management auf. Ihr beruflicher Schwerpunkt verlagerte sich auf die therapeutische Arbeit mit Menschen, die Auswege aus Stress und Burnout suchten. Im Laufe der Zeit gründete sie das Deutsche Fachzentrum für Stressbewältigung (DFME) und wurde zur Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Meditationskultur e.V. gewählt.

Nun hat Doris Kirch das „Handbuch Stressbewältigung“ herausgegeben. Ein besonderes Anliegen war ihr dabei, zusammenzufassen, was sich an Strategien, Methoden und Sichtweisen nach ihrer jahrzehntelangen Erfahrung am besten bewährt hat, denn das enorme Überangebot von Ratgebern zum Thema macht es dem Suchenden kaum leicht, etwas Richtiges und Passendes für sich zu finden. Darüber hinaus ist der Autorin ein Fachbuch gelungen, das über die Volkskrankheit Nummer Eins wichtiges Hintergrundwissen liefert. Als Grundlage dient ihr neben wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der modernen Stressforschung auch das Wissen alter Kulturen unserer Erde.

Achtsamkeit, die durch verschiedene Meditations- und Entspannungsmethoden systematisch erlernt werden kann, bewirkt eine Bewusstwerdung automatisch ablaufender reaktiver Muster, die in hektischen oder belastenden Situationen immer wieder auftauchen können und die oftmals bereits in jungen Jahren erlernt worden sind. Die Haltung der Achtsamkeit, die diese Muster sichtbar macht und durchbricht, soll nach und nach zu einer neuen Lebenshaltung, zur zweiten Natur werden. Sie geht einher mit einem Erwachen aus dem Ohnmachtsgefühl, hin zu einem von unbewussten Steuerungen befreiten Denken, Fühlen und Handeln.

Nur durch Praxis lässt sich die Haltung der Achtsamkeit erschließen. Ziel ist es, das Hier und Jetzt bewusst zu erleben. Achtsam sein bedeutet, von Augenblick zu Augenblick auf eine bestimmte Art und Weise aufmerksam zu sein. Es geht um reine Wahrnehmung, die ohne Benennung, Urteil oder Interpretation auskommt. „Je klarer wir uns unserer selbst und der Situationen unseres Lebens bewusst sind, desto mehr wächst unsere Fähigkeit, selbstbestimmt und angemessen auf äußere Einflüsse zu reagieren. Solange wir ‚ohnmächtig‘ durch unser Leben torkeln und wie ein Blatt im Wind hierhin und dorthin geweht werden, ist das nicht möglich. Achtsamkeit führt zu klarer Erkenntnis und zu mehr Selbstbestimmung im Leben – und damit zu weniger Stress“, erklärt die Autorin.

Doris Kirch nennt ihren Weg der Stressbewältigung die „Tiger-Strategie“, weil es um das Konzept einer Integration von Entspannung bei gleichzeitiger Wachheit geht. Der Tiger symbolisiert die Eigenschaft, selbst im Ruhezustand hellwach zu sein, seine Kraft und seine Möglichkeiten zu kennen und ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt zu haben. Im Gespräch mit der Expertin für Stressbewältigung hat newsage Näheres über die Methode erfahren.

Eine Zen-Geschichte: Ein alter Mann sagte zu seinem Enkelsohn: „Söhnchen, ich halte zwei Tiger in mir gefangen. Der eine heißt ‚Liebe und Mitgefühl‘. Der andere heißt ‚Angst und Wut‘.“ Darauf fragte der Enkelsohn: „Welcher wird gewinnen, Großvater?“ Der alte Mann antwortete: „Derjenige, den ich füttere.“

newsage: Seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit Methoden und Strategien zur Stressbewältigung. Was hat Sie damals dazu veranlasst, „den Tiger zu zähmen“?
Kirch: Vielleicht hatte es mein „Tiger“ besonders nötig, denn ich bin unter dem Sternzeichen Widder geboren. Aber im Ernst: Ich hatte ein recht herausforderndes Leben, das mich zur Spezialistin für Stress gemacht hat. Hinzu kommt, dass ich seit 1985 Zen-Schülerin bin und Meditation integraler Bestandteil meines Lebens geworden ist. Ich lernte die heilsame Wirksamkeit verschiedener Methoden der inneren Zentrierung und die Bedeutung der Achtsamkeitspraxis am eigenen Leib kennen. Da ich über Jahre hinweg auch noch zahlreiche Ausbildungen in physischen, psychischen und energetischen Heilverfahren absolviert hatte, verdichteten sich alle diese Faktoren fast wie von selbst zu dem Weg der „Tigerzähmung“.

newsage: Das „Handbuch Stressbewältigung“ will nicht nur praktischer Ratgeber sein, sondern versteht sich auch als kritisches Fachbuch. Worin besteht der besondere Ansatz Ihres Buches?
Kirch: Dieses Buch ist ein Standardwerk, das Wissen vermittelt, Hintergründe erhellt und effiziente, alltagstaugliche Möglichkeiten zur Stressbewältigung aufzeigt. Der besondere Ansatz ist der hautnahe Praxisbezug. Ich verschwende die Zeit meiner Leser nicht mit semiprofessionellem Halbwissen, sondern vermittle ihnen kompakt, kompetent – aber durchaus kurzweilig lesbar – das Wissen und die Erfahrung einer Fachkraft mit über zwanzigjähriger Berufserfahrung.

newsage: Fast jeder benutzt den Ausdruck „Stress“ zur Beschreibung von beruflichen und privaten Befindlichkeiten, doch kaum jemand kann erklären, was damit eigentlich gemeint ist. Wie lautet Ihre Definition dieses Phänomens?
Kirch: Meine eigene Definition schließt sich der wissenschaftlichen an: In einfachen Worten ausgedrückt ist Stress ein Gefühl, das entsteht, wenn wir uns einer Situation ausgeliefert fühlen, die wir glauben, nicht beeinflussen zu können. Das weist darauf hin, dass Stress (auch) etwas Subjektives ist, das mit unseren Gefühlen und der Einschätzung der Selbstwirksamkeit in unserem Leben zu tun hat.

newsage: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen für den zunehmenden Stress in der heutigen Zeit? Besteht eine wirksame Stressbewältigung hier nur im richtigen Umgang damit oder ist nicht sogar eine Bekämpfung dieser Ursachen erforderlich?
Kirch: Lassen Sie uns nicht von „Bekämpfen“ reden; das ist zwar weit verbreitet, nährt aber meiner Meinung nach die Phantasie, dass unser Leben ein Schlachtfeld voller Bedrohungen ist, gegen die wir uns zu wehren haben. Eine effektive Stressbewältigung sollte sich mit Ursachen, Methoden und Strategien gleichermaßen beschäftigen. Die Ursachen des Stresses sehe ich zum einen in der Globalisierung und der damit zusammenhängenden fortschreitenden Kommerzialisierung und zum anderen in der zunehmenden Technisierung der Welt, die uns zwar an manchen Stellen Aufwand abnimmt, ihn dafür aber an anderer Stelle verdoppelt. Ich mag Technik, aber ich glaube, dass die Geschwindigkeit, mit der sie sich entwickelt, unser 280 Millionen Jahre altes Instinkthirn längst überholt hat. Das tut uns nicht gut. Wir brauchen wieder mehr Entschleunigung, mehr Muße, mehr Natur, mehr Schöngeistigkeit – einfach mehr gesunden Ausgleich.

newsage: Für eine erfolgreiche Stressbewältigung spielt die Meditation eine wichtige Rolle. Was hat man darunter genau zu verstehen und wie meditiert man richtig?
Kirch: Der Begriff Meditation ist mit wenigen Worten nicht zu erklären. Es kommt darauf an, ob Sie etwas über Meditation als Methode, als Zustand oder als Weg wissen möchten. In meinem Buch erkläre ich das differenziert. Es gibt zahllose verschiedene Meditationsformen und Meditationstechniken. Was Sie dabei richtig oder falsch machen können, hängt von der jeweiligen Methode ab. Eines der größten Übel bei allen Formen ist nach meiner Erfahrung, wenn Meditierende vor sich hindämmern oder in mystischen Schauungen weilen, anstatt völlig wach, klar und präsent zu sein. Denn gerade die Wachheit ist es, die einen meditativen Zustand kennzeichnet.

newsage: In Ihrem Buch heißt es, das Geheimnis erfolgreicher Stressbewältigung besteht in der „Achtsamkeit“. Was ist damit gemeint?
Kirch: Achtsamkeit wird im Buddhismus auch gerne als „heiter gelassenes Gewahrsein“ bezeichnet. Es ist eine besondere Form von Aufmerksamkeit. Achtsam zu sein bedeutet, mir aller Dinge in mir und um mich herum wertungsfrei bewusst zu sein. Wie ich vorhin sagte, entsteht Stress aus einem Gefühl heraus, das viel damit zu tun hat, sich ohnmächtig oder ausgeliefert zu fühlen. Je mehr wir uns unserer selbst bewusst sind und je ruhiger unser Geist ist, desto mehr wächst unsere Fähigkeit, selbstbestimmt und angemessen auf äußere Einflüsse zu reagieren.

newsage: Worauf sollten Betroffene achten, wenn sie sich Hilfe suchen wollen, um Anspannungen und Stress zu bewältigen?
Kirch: Vor allem sollten sie alles meiden, was schnelle Lösungen verspricht. In einer effektiven Stressbewältigung gibt es keine schnellen Lösungen, sie bedarf eines gewissen Aufwands. Betroffene sollten darauf achten, dass ein Therapeut und/oder Kursleiter die Stressbewältigung nicht nur als Nebenbei-Brötchenerwerb betreibt, sondern hauptberuflich darin arbeitet. Sie sollten sich auch die Freiheit nehmen, ganz gezielt nach Qualifizierung und Berufserfahrung zu fragen.

Unter www.der-stresscoach.de beantwortet Doris Kirch kostenlos Fragen zum Thema.

BUCH-TIPP
Doris Kirch
‚Handbuch Stressbewältigung – Lernen Sie in fünf Schritten, den Tiger zu zähmen‘
280 Seiten, € 19,95 (mit Übungs-CD)
ISBN 978-3-938396-34-6
Mankau Verlag