Künzig Shamar Rinpoche ist als der 14. Shamarpa nicht nur einer der höchsten tibetischen Würdenträger, sondern neben dem Karmapa auch der zweite Linienhalter der Karma-Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus. Im Oktober 2008 hatten wir die Ehre und das Vergnügen, im „Bodhi Path“-Zentrum in Renchen-Ulm ein Gespräch mit Shamar Rinpoche zu führen – dem Ort, an dem er vom 29. Mai bis zum 1. Juni 2009 einen Lodjong- Kurs (buddhistisches Geistestraining) abhalten wird.
Kurz vor meinem Treffen mit Shamar Rinpoche hatte mich eine Kollegin daran erinnert, dass es gute tibetische Tradition sei, als Gast eine „Khata“, einen weißen Begrüßungsschal an den Gastgeber zu überreichen, der die reinen Absichten des Besuchers symbolisiert – dies sei ein „Muss“ bei der Begrüßung hoher tibetischer Würdenträger. Und so versuchte ich an jenem Montagmorgen noch schnell einen solchen Schal aufzutreiben. Unglücklicherweise hatte aber das „Tibet Kailash Haus“ geschlossen und auch auf dem Freiburger Kartoffelmarkt wurde ich nicht fündig. So fuhr ich ohne Schal nach Renchen- Ulm und hoffte, dass Seine Heiligkeit meiner Frau und mir den Fauxpas verzeihen würde.
Schon bei unserer Ankunft im „Bodhi Path“-Zentrum, einer früheren Gaststätte, die nun zu einem friedlichen Retreat-Zentrum umgestaltet worden ist, versicherte uns Frau Teuber vom dortigen Team, dass die fehlende Khata kein Problem und Shamar Rinpoche kein auf Zeremonien bedachter Lama sei. Etwas, das uns kurz darauf beim Treffen mit dem 14. Shamarpa vollends bewusst wurde: Seine Heiligkeit ist ein weltoffener und sehr humorvoller Mensch, der innere Ruhe und außergewöhnliche Kraft ausstrahlt. Und so hatte unser Interview auch weniger den Charakter einer Audienz als den eines informellen Gesprächs.
Shamar Rinpoche betont gleich zu Anfang, dass er zwar einer der spirituellen Führer der Kagyüpa-Schule des tibetischen Buddhismus in direkter Nachfolge des legendären Milarepa sei, aber er verstehe sich selbst mehr als buddhistischer Philosoph und Lehrer und weniger als „zeremonieller Lama“ oder „Vorsteher eines großen Klosters“.
Ich frage ihn, was ihn gerade nach Europa führt, und er erzählt, dass er als Sprecher zum „2. Bleep-Kongress“ in Frankfurt eingeladen sei, wo er zum Thema „Leben nach dem Tod“ referieren werde. Was mich natürlich gleich zur Frage führt, ob er sich als „Tulku“, als Wiedergeborener, an seine vorherigen Leben erinnere. „Nein“, antwortet er bestimmt, fügt aber lachend hinzu, dass er sich wohl an ein früheres Leben als Vogel erinnern könne. Wieder ernst erklärt er, dass ein Tulku durchaus auch als Tier reinkarnieren könne.
Er selbst sei bereits im Mutterleib als Tulku erkannt worden, und zwar von seinem Onkel, dem 16. Karmapa, der später sein Lehrer wurde. Er sei allerdings nicht gleich als Reinkarnation des Shamarpa erkannt worden, sondern eben nur als Tulku, als Reinkarnation eines buddhistischen Meisters. Erst später wäre klar geworden, dass er die Wiedergeburt des Shamar Rinpoche war und damit der Halter einer Linie, die eng mit der des Karmapa verknüpft ist. Und er erklärt mir, dass die Inthronisation der Shamarpas aufgrund politischer Verwicklungen zwischen Nepal, Tibet und China für lange Zeit verboten gewesen sei, bis der Bann im Jahr 1963 durch den Dalai Lama offiziell aufgehoben wurde. Aber die Linie der Wiedergeburten wäre auch zu Zeiten des Bannes nie unterbrochen gewesen.
Ich frage ihn, was er als „moderner Lama“ lehrt, und er erklärt, dass er vor allem das 7-Punkte-Geistestraining des Atisha und des Gampopa, das „Lodjong“, vermittelt, bei dem es vor allem um wirkungsvolle Meditationstechniken geht, die er im Westen über seine „Bodhi Path“-Zentren verbreite. Er arbeite gerade an einem Buch zum Thema, einem Kommentar zu Atishas „Lamp for the Path to Enlightenment“.
Er betont, dass er allerdings nicht die yogischen Techniken des Milarepa lehrt, zu denen „Tummo“, das legendäre innere Feuer, zählt. Diese Techniken gehörten zwar zu seiner Übertragungslinie, aber sie seien wie das tantrische Yoga nicht sonderlich für uns Menschen im Westen geeignet. Er ergänzt: „Diese esoterischen Techniken sind nicht einmal was für die Menschen in Tibet. Das ist nur etwas für Leute, die der Welt völlig entsagen und sich in eine Höhle zurückziehen. Ich weiß, die Leute hier lieben Fantasy, aber ich glaube nicht, dass es ihnen hilft. Wie gesagt, es ist nicht einmal was für die Tibeter, sondern nur für Leute, die alles hinter sich lassen, wie Milarepa.“
Für die Menschen im Westen empfehle er vor allem den Weg des Mitgefühls und der Achtsamkeit, die Lehre Buddhas: „Ein gutes Leben führt zu einem guten Leben und so fort – bis man irgendwann erleuchtet ist. Und das ist nicht meine Lehre, sondern die Lehre Buddhas, und der Kern dieser Lehre ist das Mitgefühl. Das ist ein sehr einfacher Weg, dem auch die Menschen im Westen leicht folgen können und der reiche Früchte trägt.“
Ich frage Shamar Rinpoche zum Abschluss noch, ob er eine Botschaft für unsere Leser habe, und er betont noch einmal, dass sich die Menschen bei uns nicht auf die esoterischen Aspekte des tibetischen Buddhismus fokussieren sollten, da die Essenz dieser Lehren ohnehin weitgehend verloren wäre. „Nur die Show geht weiter“, sagt er. „Lasst euch nicht davon blenden oder in die Irre führen. Konzentriert euch lieber auf das Wesentliche, auf Achtsamkeit und Mitgefühl, auf die Meditation oder das Geistestraining des Atisha. Hier ist die Essenz noch erhalten.“
Weitere Informationen:
Bodhi Path
Buddhistisches Zentrum der Karma Kagyü Linie e.V.
Kaierstr. 18, 77871 Renchen-Ulm Tel: 07843-7232
info@bodhipath-renchen-ulm.de
www.bodhipath-renchen-ulm.de
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ISBN 978-3-928554-65-7
Joy Verlag