Das Thema Erwachen zieht mehr und mehr Kreise auf der spiegelnden Oberfläche unserer großen kollektiven Weltenseele. Nicht nur das Interesse an der „wahren“ Natur des Selbst und der Dinge steigt, sondern auch die Anzahl derjenigen, die sich als erwacht bezeichnen. Während gemeinsam, in Satsangs, Retreats und Seminaren Erwachte mit Interessierten ihre Erfahrungen teilen und innere Stille üben, kristallisieren sich auch immer wieder feine Nuancen in den Methoden heraus, wie das Wissen von der Non-Dualität – Advaita genannt – weitergegeben wird.
Advaita ist eine philosophische Richtung aus Indien, die das unteilbare Einssein postuliert: Schöpfung, Schöpfer und Geschöpfte sind eins. Dieses Eine, Brahman genannt, manifestiert sich in unendlich vielen verschiedenen Formen, die sich wie Schall vom Ursprung entfernen, um als Echo wieder zu ihm zurück zu kehren. Der Weg zum eigenen innersten Kern, Atman, stellt ein ebensolches Zurückkehren dar, die Rückkehr zum Ursprung, der in uns ist und uns gleichzeitig mit allem verbindet. Die Erfahrung dieses Einsseins birgt die Erkenntnis, dass die Welt der Erscheinungen, und damit das Ich, nur ein Spiel Brahmans sind. Diese Erkenntnis wird Vedanta („Ende des Wissens“) genannt.
Brahman ist unendlich, allgegenwärtig und absolut, deshalb existiert auch nichts außerhalb von ihm. Die Trennung, die wir als Individuen in der Welt voneinander und von den uns umgebenden Objekten erleben, ist eine Illusion. Diese Illusion entsteht durch den Verstand, der sich mittels seines Hauptinstruments, der Sprache, eine Beschreibung seiner Wahrnehmungen schafft, die mit jedem Lebensalter an Komplexität und Undurchdringlichkeit zunimmt.
Der traditionelle Advaita geht auf Shankara zurück und wurde unter anderem von Ramana Maharshi gelehrt. Durch Schüler von Maharshi fand die Lehre ihren Weg zu uns. Ramana (1879 – 1950) war ein gewöhnlicher Schuljunge, der sich mehr für Fußball interessierte als für Religion, als er eines Nachmittags im Alter von 16 Jahren plötzlich die innere Gewissheit hatte, sterben zu müssen. Dieses Gefühl war für ihn in diesem Augenblick so real, dass er sich innerlich darauf vorbereitete, mit dem Leben abzuschließen. Maharshi erlebte daraufhin einen Zustand, als verschmelze er mit der Unendlichkeit. Er wurde sich dabei seines wahren Selbstes gewahr und verweilte von da an in diesem Gewahrsein, das von einem Gefühl des Friedens begleitet war. So berichten die überlieferten Erzählungen von und über Ramana.
Dadurch, dass Ramana das Erwachen ohne bestimmten religiösen Hintergrund erfuhr, erreichte seine spätere Popularität Menschen verschiedenster Herkunft. Die Schallwellen seiner Erfahrung breiteten sich über die ganze Welt aus. Besonders im Westen sieht man in Maharshi eine Art Vorreiter, der die vielen verschiedenen östlichen Glaubensrichtungen revolutioniert, weil vereinfacht, hat. Seine Lehre vom Schweigen, die ohne Rituale, Vorschriften und Hierarchien auskommt, hat bewirkt, dass sich immer mehr Menschen unseres Kulturkreises an das Projekt „Erleuchtung“ wagen.
Alle, die sich dabei auf ihre persönliche Suche nach dem Ende der Illusionen machen – wobei dies natürlich ebenso eine Illusion sein könnte – hegen die brennende Frage: „Was kann ich tun?“ Selten wird die Frage praktischer beantwortet als von dem spirituellen Lehrer Christian Meyer, dessen Suche nach Erleuchtung 1998 ein glückliches Ende fand. Seine Methode verbindet psychotherapeutische Elemente mit verschiedenen spirituellen Strömungen und klammert die ungeliebten, allzu oft vernachlässigten Nebenwirkungen jeglicher menschlichen Beschäftigung nicht aus, sondern bezieht sie mit ein: die Gefühle. Der studierte Psychologe und Gründer des spirituellen Zentrums „zeit-und-raum“ in Berlin, der über die Grenzen von Deutschland hinaus tätig ist, hat die Mitschrift eines 14-tätigen Retreats herausgegeben, das in seinen Augen die ganze Bandbreite von Fragen und Stolpersteinen behandelt, die jedem auf dem Weg zum Erwachen begegnen können. Eine Teilnehmerin, die während dieses Retreats erwacht ist, kommt in dem Buch ebenso zu Wort wie eine Reihe weiterer Menschen, die mit den verschiedensten Themen bei Meyer Hilfe oder Rat suchen. Diese einzigartige Möglichkeit, einen solchen Gruppenprozess genau mit zu verfolgen und bei Bedarf nachlesen zu können, vermag im Leser selbst eine Entwicklung zu fördern. „Wenn du das Buch in einer offenen Haltung liest, kann es dich verändern“, schreibt Meyer.
Was man also tun kann
„Das Aufwachen oder die Erleuchtung ist etwas, das geschieht und nicht gemacht werden kann“, sagt der Autor einerseits. Das Aufwachen bestehe ja in der Erkenntnis, dass da gar kein Ich sei, das etwas tun könne. Trotzdem sei man deshalb nicht dazu verurteilt, nur abzuwarten und alles weiterlaufen zu lassen. „Der Einzelne kann sehr viel tun, um das Aufwachen wahrscheinlicher werden zu lassen. Jedoch ist das, was sie oder er tun kann, kein Einüben von etwas, sondern ein radikales Anhalten und ein tiefes Entdecken, wer ich wirklich bin.“
Die Vorgehensweise ist auf den ersten Blick nicht schwer. Anstatt über ein Problem, eine Situation zu sprechen, lässt Christian Meyer die Teilnehmer immer wieder radikal innehalten, um die momentanen Gefühle zu fühlen. Der Kopf sollte sich dabei nicht einschalten. Auch innere Bilder sollten nicht festgehalten werden, da sie die Erfahrung sofort „einfrieren“. Lediglich die Benennung des erfahrenen Gefühls darf stattfinden, da man so lernt, die verschiedenen Schichten der emotionalen Altlasten zu unterscheiden und den Fokus auf jeweils eine davon zu behalten.
Der Autor Christian Meyer |
Meyer kritisiert an anderen Methoden der Selbstfindung, wie beispielsweise der Meditation, dass zwar die Stille geübt wird, man sich jedoch gleichzeitig dissoziiert. Das heißt, das bloße Beobachten von Gedanken und Regungen, schiebt aufkommende Gefühle vom Praktizierenden weg und trennt ihn von einer lebendigen Erfahrung. Man stehe sowieso viel zu oft „neben sich“, meint der Berliner. Der Weg ins Innerste ist nur zu erreichen, indem man sich den emotionalen Prozessen, die von ganz alleine im täglichen Auf und Ab eines Menschen in Erscheinung treten, vollkommen hingibt und öffnet. Selbst die Tendenz zum Ausweichen soll man entdecken und erfühlen. Für seine Argumentation nimmt der Autor den mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart als Beispiel, der ebenfalls riet, in einem Gefühl zu bleiben und es „auszuleiden“. Erst, wenn die Gefühle zur Ruhe gebracht worden sind, können die Gedanken still werden. Nicht umgekehrt.
Die aufmerksame Hingabe an das Gefühl, das Erspüren der Feinheiten, das Sicheinlassen auch auf unangenehme Regungen führt letztendlich zur Auflösung eben dieser Gefühle, die sich im Laufe unseres Lebens ansammeln, da wir sie nur allzu gerne verdrängen. Doch umso mehr wir unsere Gefühle unterdrücken, um Schmerzhaftes (oder oft auch nur Intensives) nicht spüren zu müssen, umso mehr wird sich dies auch körperlich auswirken. Mit der Zeit wird man dann bei dem Prozess des „Wiederfühlens“ merken, wie das Herz, das mitunter wie eingefroren ist, langsam zu tauen beginnt. Dafür lohnt es sich, in Kauf zu nehmen, dass man unangenehme Gefühle noch einmal durchleben muss. Solange man sich dabei dem natürlichen Fluss des Auf- und Abtauchens von Gefühlen anvertraut, wird man immer soviel zur Verarbeitung vorfinden, wie man verkraften kann. Die Angst vor einem Gefühl, etwa der Angst selbst, ist eigentlich sogar unbegründet. So kommt in Christian Meyers „Aufwachen“ eine Frau zu Wort, die ein starkes Angstgefühl hat und von ihm gefragt wird: „Was macht das Gefühl mit dir?“ Ihre Antwort lautet nach einem Moment des Spürens: „Eigentlich gar nichts“. Sie lockert ihren Kiefer, atmet bewusst weiter, lässt jeglichen Kontrollversuch los und irgendwann zieht die Schwingung vorüber. Schmerz und Angst sind nicht wirklich die Dinge, die uns Leid zufügen; die Versuche, vor diesen Gefühlen wegzulaufen, schaffen erst Leid, erläutert der Leiter der Gruppe.
Manchmal ist es schwer, in einem bestimmten Gefühl zu verweilen. Wer jedoch den Mut hat, nicht wegzulaufen, wird mit der Zeit den „Dreh heraus haben“ und stetig Schicht um Schicht seines alten Gefühlsballastes auflösen. Wenn eine Phase der Gefühle vorbei gezogen ist, kann sich oftmals ein Gefühl der Leere ausbreiten. Auch diese Leere, erklärt Meyer, hat verschiedene Schichten, die alle durchwandert sein wollen. Der Prozess des Erwachens hört eigentlich nie auf. Es geht immer wieder um Vertiefung. Solange ein physischer Körper da ist, sollte man immer wachsam sein, denn Rückfälle sind nicht selten.
Wer durch den letzten Abgrund gegangen ist, die letzte Angst verloren hat – welche die Angst vor dem Tod ist –, hat auch seine Persönlichkeit vollends überwunden. Daher bemerkt der spirituelle Lehrer, dass die wirklich schwerwiegenden Dinge gar nicht in unserer Vergangenheit liegen, sondern vor uns: in der Begegnung mit dem Tod, dem existenziellen Alleinsein. Um durch dieses Tor der Einsamkeit und der Isolation zu gelangen, muss es einem im Grunde egal sein, ob man sich gut fühlt. Man muss dem Tod im Grunde völlig zustimmen, was in großem Kontrast zu vielen spirituellen Strömungen, die sich vornehmlich um das persönliche Wohlfühlen drehen, steht. Die Versuche, das „Ich“ doch noch zu retten, sind laut Meyer nur Fantasien zum Festhalten. Erst wenn diese Versuche, sich mit netten Ideen das Leben wohliger einzurichten, fallen gelassen werden, können wir erkennen, wie groß unser Herz, unsere Liebe wirklich sind und wie wenig das Ende unseres vermeintlichen Ichs dieser Instanz anhaben kann.