Das Leben von Rudra ist verpfuscht. Er ist dem Alkohol verfallen und all seine Freundschaften sind zerbrochen. Er ist eine gescheiterte Existenz und denkt ständig daran, seinem miserablen Leben ein Ende zu setzen. In dieser Stimmung fährt er auf eine Schnellstraße im Süden Indiens, als er auf der Auffahrt einen schwerverletzten alten Mann liegen sieht. Er hält an und gibt dem Unfallopfer kaum eine Überlebenschance. Trotzdem hebt er ihn auf und lädt ihn in sein Auto. Dort schlägt der alte Mann die Augen auf und sagt: „Hallo, mein Sohn!“ In diesem Moment beginnt für Rudra ein neues Leben. Der alte Mann erweist sich als sein Meister und beginnt ganz behutsam, Rudra auf einen spirituellen Weg zu führen. Genießen Sie den folgenden Auszug aus dem neuen spirituellen Roman von Ruzbeh N. Bharucha.
Der Bach war Babas Idee. Mit geschlossenen Augen informierte er Rudra, dass er zum einen grauenhaften Tee braue (dem der alte Mann gerne und ausgiebig zusprach) und es außerdem etwas weiter entfernt einen Wald gebe, durch den ein Bach flösse. Es war ein schöner Tag. Der Himmel war bedeckt, und eine kühle Brise strich über ihre Gesichter und entspannte ihre Körper. Erinnerungen an seine Kindheit stiegen in Rudra auf. Es war ein idealer Tag, um mit Freunden aus der Nachbarschaft zu spielen. Er dachte an sie, und sein Herz krampfte sich zusammen. So viele waren schon gestorben, und die, die noch lebten, wohnten weit verstreut und waren alle vom Leben gezeichnet. Aber heute war wirklich ein idealer Tag, um sich im Freien aufzuhalten. Der Banyan-Baum, auf dessen einladenden Ästen unzählige Vögel saßen, kam ihm wie ein Zuhause vor. Rudra beobachtete den Baum. Er fühlte sich mit ihm verbunden. Obwohl sie nur wenige Stunden zusammen verbracht und kein Wort miteinander gewechselt hatten, kam ihm dieser Baum irgendwie sehr vertraut vor. Um den Baum als Mittelpunkt drehte sich eine ganze Welt:
Vögel saßen auf seinen Ästen, Eichhörnchen kletterten an ihm herauf und herunter, Schmetterlinge flatterten um die Kletterpflanzen und Ameisen krochen in emsigen Reihen auf den dicken Ästen entlang und gingen ihren wie auch immer gearteten Geschäften nach. Was Rudra wirklich in Erstaunen versetzte, war, dass er diese Welt nur zufällig betreten hatte. Tausende von Autos fuhren jeden Tag an dem Baum vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Nicht nur keinen zweiten Blick warfen sie ihm zu, nein, schon ein einziger Blick war höchst unwahrscheinlich. Dabei war sich Rudra sicher, dass dieser Baum eine wichtige Rolle in der Schöpfung spielte. Dieser Baum hatte auch ein Wörtchen mitzureden bei globaler Erwärmung, dem Monsun, dem Gleichgewicht in der Natur, dem Duft in der Luft, bei der Bestäubung und der Unterstützung all der unzähligen Aktivitäten, die für die Natur und die kleine Welt der Vögel, Eichhörnchen, Ameisen, Schmetterlinge und dem vielfältigen Leben, das in und um den stillen, bescheidenen und unauffälligen Baum pulsierte, wichtig waren.
„In derselben Weise ist jeder einzelne Mensch für Mutter Natur und Gott bedeutsam, mein Sohn“, sagte Baba und schaute tief in Rudras Augen. „Jeder Mensch stellt für sich selbst eine eigene Welt dar. Jede Seele leistet ihren Beitrag und hat sogar ein wenig in der Schöpfung und beim Lauf des Universums mit seinen unzähligen Galaxien mitzureden. Genau wie dieser Baum, haben auch wir unsere Bedeutung und leisten unseren Beitrag zur Gestaltung des Lebens auf Mutter Erde und in der Geisteswelt.
Jedes Mal, wenn du richtig handelst, hilfst du mit, die Waage zugunsten der Wahrheit zu neigen, und dieser Beitrag wirkt sich auf die Schwingung im gesamten Kosmos aus. Jeder von uns, der die richtige Schwingung aussendet, kann auf diese Weise dabei helfen, die innere Einstellung von mehr und mehr Menschen zu ändern, bis die Welt mit positiven Schwingungen und richtigen Handlungen pulsiert. Jeder Einzelne ist für Gottes Vorsehung von Bedeutung und leistet einen Beitrag für die Schöpfung und Evolution; und auf diese Weise können wir ebenso in der Geisteswelt ein Wörtchen mitreden. Die Schwingungen, die wir aussenden, helfen auch der Geisteswelt. Über die Geisteswelt werden wir später reden. Lass uns jetzt aufbrechen und uns in den kühlen Wassern des Baches erfrischen. Dann lass uns essen und weiterfahren. Du hast noch eine Menge Arbeit vor dir.“
Rudra wunderte es schon nicht mehr, dass Baba seine geheimsten Gedanken kannte, aber er fragte sich doch, was für eine Art von Arbeit der Alte Mann für ihn in petto haben könnte. Nach Babas Angaben plätscherte der Bach leise in einem Wäldchen vor sich hin, ungefähr einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der sie den Lieferwagen geparkt hatten. Anfangs hatte Rudra Bedenken, Baba solch eine Wanderung querfeldein zuzumuten, doch schon nach fünf Minuten konnte er feststellen, dass Sich der Alte Mann behände und ohne ein Zeichen von Anstrengung fortbewegte.
Der Fotograf Herbert Ponting nennt dieses Foto, das er 1907 aufnahm: „Ein Fakir in Benares“. Genau genommen ist ein Fakir ein muslimischer Bettelmönch. Der Begriff wird jedoch auch auf Yogis aus der hinduistischen Tradition angewendet, die durch Yoga die Kontrolle des Geistes über den Körper und damit auch über physische Schmerzen erlangt haben. Als Demonstration dieser Fähigkeiten gilt z. B. das Sitzen auf einem Nagelbrett. |
Gewiss war es auch ein schöner Tag für eine Wanderung. Wolken waren aufgezogen und verdeckten die Sonne, und so konnte eine kühle Brise aufkommen und die Wanderung zu einem weniger anstrengenden Spaziergang machen. Sie gingen schweigend. Die Felder waren nicht bepflanzt, und Rudra musste daran denken, dass niemand in seinem Land hungers sterben müsste, wenn nur die Leute an der Macht endlich Anstrengungen unternähmen, die Landwirtschaft mit einer den Gegebenheiten angepassten Infrastruktur zu versehen. Für die Anbaugebiete des gesamten Landes wäre die einzig richtige Lösung eine künstliche Bewässerung, die auch eine ganzjährige Wasserversorgung sicherstellte, so dass die Bauern nicht mehr von nur vier launenhaften Monsun-Monaten zur Bewässerung ihrer Felder abhängig wären. Sicher, die Kosten wären astronomisch hoch, aber man sollte doch nur einmal die Vorteile bedenken, die auf der Hand lägen. Es gäbe Arbeit für Millionen von Menschen, wenn das nationale Bewässerungssystem aufgebaut würde. Wenn die Bauern erst einmal ihr Land das ganze Jahr über bestellen könnten, gäbe es genug Nahrung für alle.
Millionen von Bauern würden so in die Lage versetzt, ein Dasein in Würde führen zu können. Sie würden nicht länger dazu gezwungen, Selbstmord zu begehen, nur weil der Monsun einmal ausblieb. Sie könnten sich darauf konzentrieren, die Erziehung ihrer Kinder zu fördern und ihren Alten einen sicheren Lebensabend zu bieten. Des Weiteren würden das ganze Jahr über Arbeitskräfte in der Landwirtschaft benötigt. Wenn die Bauern sich durch künstliche Bewässerung Wasser beschaffen könnten, wären siebzig Prozent der gesamten Bevölkerung das ganze Jahr über beschäftigt. Ihre Kaufkraft würde zunehmen, so dass die allgemeine Nachfrage steigen und diese dann wiederum das industrielle Wachstum ankurbeln würde. Der Export von Getreide würde in den Himmel schießen. Die Landflucht würde abnehmen. All dies könnte Realität werden, wenn nur die Landwirtschaft das ganze Jahr lang in Betrieb sein könnte. Man sollte Geld von der Weltbank borgen, die großen multinationalen Konzerne zur Mitfinanzierung veranlassen, sicherstellen, dass die vielleicht tausend größten Spitzenunternehmen ihren Teil beisteuerten, weniger für bürokratischen Unsinn ausgeben … um Gottes willen, wenn ein Großteil eines Staates landwirtschaftlich genutzt wird, sollte es doch das Bestreben des Staates sein, sein Hauptaugenmerk auch auf eben diese Landwirtschaft zu richten. Und was die Landwirtschaft das ganze Jahr über braucht, ist nun einmal Wasser.
Sie betraten das Wäldchen. Es war nicht sonderlich dicht bewaldet und auch recht klein, höchstens einen halben Kilometer lang und breit. In dem Augenblick, in dem sie es betraten, wurde es nicht nur kühler, sondern auch das Licht wurde schwächer. Rudra brauchte eine Zeit lang, um sich an die verschiedenen Düfte, die auf ihn einstürmten, zu gewöhnen. Ihre Umgebung erinnerte ihn an Swami Ramas „Himalayan Institute“ in Pennsylvania in den USA. Nach Rudras Ansicht war dies einer der landschaftlich schönsten Plätze auf der ganzen Welt. Wälder, ein See, Bäche, umherstreifende Rehe, Menschen, die sich alle auf einer spirituellen Suche befanden, gingen ihrer Arbeit nach, der ganze Ashram war von Bergen umsäumt und, so weit das Auge reichen konnte, von einem schier unendlichen Himmel. Trotz all dieser Naturschönheiten hätte Rudra sich beinahe in dem wunderbaren Wald mit seinem See, den Bächen und den umherstreifenden Rehen umgebracht. Wenn er sich an diese Zeit erinnerte, gefror Rudra auch jetzt noch das Blut in den Adern. Es war, als ob etwas in seinem Inneren, ein immens mächtiger Drang, ihn zuerst angestoßen, dann gedrängt und letztlich mit allen Kräften dazu getrieben hätte, derart in Depressionen zu versinken, dass Selbstmord und nichts als Selbstmord der einzig mögliche Ausweg schien.
Aus irgendeinem Grund wollte Rudra sich aber nicht umbringen, nicht, weil er nicht gerne gestorben wäre, sondern weil er nicht den Tod eines Feiglings sterben wollte. Er erinnerte sich daran, dass er sich in dem Wald niedergekniet und Baba weinend um Hilfe angefleht hatte. Nach einer Weile hatte er gespürt, wie Wärme, Hoffnung und Energie sein ganzes Wesen ausfüllten, als ob die Natur in ihrer Gnade ihre Arme weit ausgebreitet, ihn umarmt, getröstet und letztlich geheilt hätte, jedenfalls so weit, dass er fähig war, weiterzuleben. An jenem Tag hatte Rudra einen Blick in die geistige Verfassung von Abertausenden von Menschen werfen können, die ständig auf Messers Schneide zwischen Normalität und Wahnsinn stehen.
„Damals war ich bei dir. Ich hörte dein Flehen. Ich hielt dich in meinen Armen. Immer, wenn ein Kind in Liebe nach mir ruft, bin ich bei diesem Kind. Wenn das Kind möchte, dass ich für immer bei ihm bleibe, dann muss es mich auf solch eine Art lieben. Alles, was ich brauche, ist Liebe, selbstlose Liebe. Lebe im Hier und Jetzt, mein Sohn. Erfreue dich an dem Wald, an der Natur und an diesen Augenblicken, so dass die Seele sich an diesen Erinnerungen laben kann.“
Der Fakir Ahad Saab, genannt „Das Juwel von Kashmir“, genießt allerhöchstes Ansehen und hingebungsvolle Verehrung bei seinen Anhängern. Sie sehen ihn als vollkommene Inkarnation des Göttlichen auf Erden an. An charismatischen Männern wie ihm orientiert sich ganz gewiss die Darstellung der Hauptfigur in unserem Buch. |
Rudra nickte. Er war sich bewusst, dass dies der einzig mögliche Weg war, sein Leben zu leben – genau wie der Alte Mann es sagte. Im Augenblick zu leben hieß, sich im Hier und Jetzt zu befinden, und das wiederum besagte, sich im Einklang mit dem Schöpfer, der wahrhaft die Verkörperung von Präsenz und Gegenwart darstellte, zu befinden. Im Moment zu leben, war die Versicherung, nicht von der Vergangenheit gequält oder von Grübeleien über die Zukunft belastet werden zu können. Es war der Weg, der geistiges Wohlergehen und vor allem Frieden verhieß. Das Plätschern des Baches war jetzt deutlich vernehmbar. Mit jedem Schritt verstärkte es sich weiter. Nach einer Weile war aus dem Plätschern und Glucksen des Baches eine eigene Melodie herauszuhören. Rudra atmete tief ein. Baba ging vorneweg, Seine Lippen bewegten sich, und Rudra war sich sicher, dass der Alte Mann den Namen Gottes rezitierte. Während der gesamten Zeit, in der der Alte Mann schwieg, bewegten Sich Seine Finger und Seine Lippen zu einem Sprechgesang, den Rudra nicht verstehen konnte. Offensichtlich benutzte Baba eine andere Sprache. Der Klang der Vögel, manchmal leise, manchmal kreischend, mischte sich mit der Melodie des Baches und der sanften Brise. Kontrapunkte setzte das Geräusch trockener Blätter, die unter ihren Füßen raschelten. Baba hatte dünne hölzerne Sandalen und Rudra seine Slipper an.
Als sie den Bach sahen, strahlten sie – wie zwei Kinder. Rudra fiel auf, dass es schon eine Ewigkeit her war, dass ihn irgendetwas besonders berührt hatte. Jetzt, mit diesem ungewöhnlichen Alten Mann, in diesem idyllischen Wäldchen mit dem kleinen Bach, in einem völlig abgelegenen Teil des Landes, wallte plötzlich eine Woge von Lebensfreude in ihm auf, von der er geglaubt hätte, dass sie schon vor langer Zeit in seinem Inneren vertrocknet sei.
Sie setzten sich auf Felsen am Rande des Baches und bestaunten eine geraume Weile die Schönheit der sie umgebenden Natur. Rudra konnte Teile des Himmels sehen, abgeschirmt durch das filigrane Netz tausender Blätter. Er konnte die Vögel hören, vernahm, wie die Eichhörnchen hin und her huschten, fühlte die leichte Brise auf dem Gesicht und atmete den Duft der Blätter, Blumen und feuchten Erde, durch die der Bach floss, ein. Nach einer Weile gingen beide barfuss in den flachen Bach und achteten darauf, dass ihre Kleider nicht nass wurden. Das Wasser war kühl und höchstens ein paar Handbreit tief. Der Strom rauschte zwischen ihren Zehen hindurch und berührte sanft ihre Füße, Knöchel und Waden. Rudra beugte sich hinab, nahm etwas von dem kühlen Nass in seine Hand und wusch sich Gesicht, Haar und Nacken. Beide blieben lange so stehen. Dann wandte Baba sein Gesicht Rudra zu und lächelte.
„Der Strom des Lebens fließt durch uns alle. Man muss Verbindung mit ihm aufnehmen und in ihn eintreten. Manchmal geht er in den Wäldern voller Gedanken, Verwirrung, Gier und Alltagsallerlei verloren. Doch er befindet sich in jedem Menschen. Manche Menschen verbringen ihr ganzes Leben, ohne auch nur ein einziges Mal seine Schönheit zu würdigen oder sich in seinen kühlen Wassern zu reinigen. Aber diejenigen, die ihn in ihrem Inneren finden, können von ihm allezeit erfrischt und gestärkt werden, wann immer sie dies wünschen. Man muss sich Zeit nehmen, den Fluss im Inneren wahrnehmen und eins mit ihm werden. Ihr nennt dies Meditation. Ich nenne es, nach innen gehen. Der Strom deines Lebens ist dabei zu vertrocknen, wie dieser Bach hier. Deshalb ist er nur ein paar Handbreit hoch. Sobald du mehr Zeit damit verbringst, nach innen zu gehen, wird der Strom ansteigen und dich ganz und gar von aller Müdigkeit, all dem Dreck, Schmerz und Schlamm des Lebens reinwaschen.“
So sprach Baba und hielt Rudras Hand. Dann beugte er sich hinab, berührte das Wasser, schloss Seine Augen und flüsterte dem Strom etwas zu. Ein paar Sekunden später spürte Rudra, wie das Wasser stieg.