Viel sagt uns die Bibel nicht über Maria, die Mutter von Jesus. Die große Aufgabe, das Zurweltbringen des Sohnes Gottes, angekündigt vom Erzengel Gabriel, scheint eine unbedarfte jüdische Frau zu treffen, die keine größere Rolle im weiteren Verlauf der Geschichte spielt. Das Geheimnis um die „jungfräuliche Empfängnis“ bleibt bestehen. Wer war sie, diese Mutter eines der größten Propheten und Heilsverkünder unserer Zeit?
Dass Maria nicht die unscheinbare Frau sein muss, die in der Bibel geschildert wird, ist durchaus plausibel. Die Ausgrabungen in Qumran, die eine alte Besiedlung der Essener und eine Unmenge an wichtigen Schriftrollen hervorbrachten, lassen zumindest eine Nähe der Essener zu Jesus vermuten. Da dieser weder zu den Pharisäern noch zu den Sadduzäern gehörte, liegt die Vermutung auch aus diesem Grund nahe. Nach Meinung einiger Fachleute lassen sich in der Bergpredigt Jesu und anderen seiner Reden ganz typische Elemente essenischen Gedankengutes nachweisen.
Wer waren die Essener?
Kurz vor Christus‘ Geburt gibt es in Judäa drei große Religionsgemeinschaften im Land: die Sadduzäer, die Pharisäer und die Essener. Die drei Parteien haben abweichende Ideen in Ritualen und Glaubensinhalten. Die Pharisäer, welche die größte Gruppe stellen, gelten als die orthodoxen Fundamentalisten, die streng den althergebrachten Gesetzen folgen. Die Sadduzäer werden aus der Priesterkaste der Rabbis des neuen jüdischen Volkes gebildet. Diese privilegierte Gruppe glaubt nicht an ein Fortleben der Seele nach dem Tod, wie die Pharisäer und die Essener. Die Essener wiederum sehen sich als die „reinen“ Nachfahren Moses, die dessen Mysterien und Gebote aktiv leben und bewahren. Sie stellen sich gegen Dogmatismus und Luxus. Ihre Lehren sind durchwoben von Elementen der alten ägyptischen Mysterienschule, in der Moses aller Wahrscheinlichkeit nach ausgebildet wurde. Gerechtigkeit, Gütergemeinschaft, Liebe und Reinheit von Körper und Speise sind Werte, die das Gemeinschaftsleben der Essener im Äußeren bestimmen.
Erstmals tauchen die Essener schriftlichen Zeugnissen des römischen Historikers Plinius zufolge um 150 vor Christus auf. Mit dem Einmarsch der Römer 68 n.Chr. verlieren sich ihre Spuren. Manche behaupten jedoch, die Essener hätten sich durch die Jahrhunderte erhalten – bis heute. So Olivier Manitara, der sich als Nachfahre der essenischen Gemeinschaft sieht. Der französische „Repräsentant der Essenischen Nation“, der bereits in jungen Jahren in einer Einsiedelei lebte und später von der UNESCO als „Kurier für den Frieden“ anerkannt wurde, hat ein Buch verfasst, das wichtige Informationen zur essenischen Geschichte und ihrer Lehre bereit hält. Die spektakulärste Neuigkeit daraus ist wohl, dass Maria Mitglied der essenischen Gemeinschaft gewesen sein soll.
Qumran
Eingang zur Grotte von Qumran, Fundort der von Fachleuten als „sensationell“ eingestuften Schriftrollen. |
Die Schriftrollen, die in den 50er Jahren in Qumran gefunden wurden, gehören zu den meist diskutierten archäologischen Funden unserer Zeit. Zehntausende Handschriftenfragmente, die in der Zeit von ca. 200 v.Chr. bis zirka 60 n.Chr. auf Pergament oder Papyrus geschrieben wurden, förderten völlig unbekannte Texte und Werke zutage. Die zwischen den 60er und 90er Jahre zusammengesetzten und entschlüsselten Texte in meist hebräischer und aramäischer Sprache umfassen nahezu alle Bücher des Alten Testaments sowie Apokryphen und Schriften der Gemeinschaft von Qumran, Privattexte und Briefe. Der französische Orientalist Edmond Székely übersetzte viele der Schriften, welche die Essener und ihre Werte betreffen. Wer sich näher mit diesen Texten befasst, kann nicht umhin, zu staunen. Von Meditation, Mutter Natur, Heilung, Ernährung, Liebe als der einzigen Waffe, von der Beherrschung und Verantwortung für die eigenen Gedanken und Emotionen ist da die Rede und erinnert deutlich an modernes esoterisches Gedankengut. Die essenische Grundidee, dass man Böses durch das Tun von Gutem überwinden kann, hat sich in der Weltgeschichte als mächtige Waffe erwiesen – man erinnere sich nur an Gandhi. Jesus hat in seinem Beispiel vom Hinhalten der anderen Wange, wenn man geohrfeigt wurde, diesen moralischen Grundsatz gewissermaßen begründet. Die außerordentlichen heilerischen Fähigkeiten Jesu könnten ihren Ursprung ebenfalls in seiner Ausbildung bei den Essenern haben. Sie waren für ihre Heilkunst bekannt und gaben dieses Wissen nur an Eingeweihte weiter.
Die „Jungfrau“
Olivier Manitara möchte in seinem Buch „Maria, die essenische Jungfrau“ die zeitlosen Aspekte des Christentums deutlich machen und Missverständnisse über die Mutter von Jesus beseitigen. Maria bleibt seines Erachtens in der Bibeltradition völlig unverstanden. „Sie war eine wahrhaftig große spirituelle Meisterin, eine Seelen- und Körpertherapeutin, eine Mystikerin auf dem Weg der Initiierung in die göttlichen Geheimnisse“, schreibt er. Maria stellte einmal den jüngsten Zweig des großen Traditionsbaumes der „Kinder des Lichts“, wie sich die Essener auch nennen, dar. Sie fügte der Lehre, die auf Moses, aber auch auf Zarathustra, Laotse und Buddha zurückgeht, ein äußerst wichtiges Element hinzu. Nicht nur das körperliche Gebären des Gottessohnes war dabei ihr Beitrag. Auch auf spiritueller Ebene hatte sie ihre Seele soweit verfeinert, dass sie von Liebe und Licht vollkommen erfüllt war, sich selbst sozusagen neu gebar. Eine solche unbefleckte Seele, erklärt Manitara, sei das, was mit „Jungfrau“ Maria gemeint ist, ein Zustand, den nur selten ein Mensch erreiche. Bei den Buddhisten würde dieser mit „Leere“ bezeichnet. Erst durch diese Reinheit Marias war es ihr möglich, dem Licht eine Offenbarungsgestalt angedeihen zu lassen. Verdichtet zu Leben entstand daraus Jesus.
Im Verlauf des Buches erfahren wir, wie Maria ihre Meisterschaft zu solch einem lichtvollen Leben erlangte, welche Übungen und Entdeckungen sie machte. Auch über ihre Vergangenheit wird berichtet. So sei Maria bereits in einem vorherigen Leben eine Priesterin des ägyptischen Tempels der Isis gewesen, eine hohe Eingeweihte, die eine scheinbar einfache Aufgabe hatte. Sie trug den Wasserkrug, mit dem sie die Hände und Füße der Männer, Frauen, Gottheiten mit geweihtem Wasser benetzte und die Erde bewässerte. Bei dieser Aufgabe hatte sie tiefgehende Einsichten.
Maria-Isis
Manitara sieht außerdem in Maria eine Verkörperung der Isis selbst. Genau wie Isis habe sie einen Gottessohn geboren und wurde von einem unsichtbaren Gott befruchtet. Der Autor ist sich dabei der Brisanz dieser Aussagen bewusst. Wenn die Leser darüber schockiert seien, dass Maria ihre Mission, einen Gottessohn auf die Erde zu bringen, von Göttern erhielt, die das Christentum nicht anerkennt, könne er das durchaus verstehen. Gleichzeitig plädiert er jedoch dafür, von jeglichem Sektierertum abzulassen. „Das Bewundernswerte an der Jungfrau ist nicht etwa ein geschehenes ‚Wunder‘, sondern die Verwirklichung des heiligen Gesetzes einer Seele, die durch verschiedene Leben hindurch auf den Akt des göttlichen Gebärens hinzielte. Im Tempel empfing Maria von ihrer Mutter Isis die heilige Lehre und entwickelte sie bis zur Vollkommenheit.“
Auch der Name Marias enthält für den Autor eine tiefere Bedeutung. Während die indische Religionsphilosophie „Maja“ als die Illusion aller weltlichen Materie bezeichnet, die überwunden werden muss, wird im Namen „Marja“ ein „R“ hinzugefügt, welches, so Manitara, „in der althergebrachten Sprache der Kinder des Lichts“ für die Kraft des erweckten Willens steht, der die im Universum verborgene Gottheit offenbaren will. Maria ging der externen Wirklichkeit keineswegs aus dem Weg, sondern auf sie zu, beobachtete und entdeckte ihren tieferen Sinn. Viele ihrer täglichen Rituale und Übungen beinhalten daher das Bewusstmachen subtiler Eindrücke. Aus diesem Grund erscheinen ihre Übungen auf den ersten Blick einfach. Doch in der Tiefe, in der Konzentration liegt ihr Geheimnis. Maria, die durch ihre einstige Arbeit mit Wasser die Macht dieses Elements begriffen hatte, war fähig, ihre Gedanken und Gefühle wie auf einem Spiegel zu beobachten. Ihre permanente Wachsamkeit vernahm selbst Kleinigkeiten. So entdeckte sie das wahre Wesen von Pflanzen und Tönen und kommunizierte mit Engeln. In besonders engem Kontakt soll sie mit dem Erzengel Gabriel gestanden haben, der bei den Essenern eine bedeutende Rolle spielt und das Element Wasser repräsentiert. Ihm wird in Manitaras Buch mit Ritualen und Übungen ebenso viel Platz gewidmet wie Maria. Auch archäologisch gesehen bestätigt sich die Affinität der Essener zum Wasser. Die Ausgrabungen haben gezeigt, dass Qumram von ausgeklüngelten Anlagen zur Wasserlagerung und -leitung durchzogen war.
Stilles Geschenk
Manitara zufolge verließ Maria den Essenischen Orden, da auch dort Gruppierungen entstanden waren, die sich dogmatisch gegen jede Neuerung stellten. Maria, die der Welt etwas ganz Neues hinzufügen wollte, brauchte offene Gemüter und ging unter das einfache Volk und wirkte dort therapeutisch und tröstend. Als ihre Entwicklung weit fortgeschritten war, zog sie sich zurück und ließ der Außenwelt hauptsächlich auf energetische Weise ihre Fürsorge zukommen. „Maria umhüllte das Wesen des Hilfsbedürftigen mit einem Energiekegel. Das ganze Feuer, über das sie kraft der Reinheit ihres eigenen Gefühls verfügte, leitete sie in der Stille weiter. Sie erbrachte diesen Dienst aus reinster Liebe zu Gott, völlig unsichtbar, und wollte nicht einmal, dass der Hilfsbedürftige es merkt.“ Maria hat also ganz bewusst zu ihrer Transparenz beigetragen. Sie wirkte im Stillen und machte keinerlei Reden von sich – und doch brachte sie etwas ganz Wichtiges zur Welt.
Maria – Die essenische Jungfrau
208 Seiten, € 19,90
ISBN: 978-3-89060-526-5
Ryvellus Verlag